Die Hälfte aller Kinder mit ADHS nehmen die Symptome mit ins Erwachsenenalter. Wie leben sie mit der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung? Thomas Lindau zählt zu den Betroffenen. Vor allem seine Familie leidet darunter.

Genau genommen möchte Thomas Lindau (Name geändert) nur seine Frau ruhig stellen. Den Termin beim Neurologen hat er wegen seiner Probleme zu Hause gemacht – nicht wegen der in seinem Kopf. Denn die habe er gar nicht, sagt er. Wie ein aufmüpfiges Kind, wie einen Zappelphilipp, behandelt Sandra Lindau ihren Mann: „Nie bringst du deine Aufgaben zu Ende. Sitz doch bitte mal still. Wenn ich dir etwas Wichtiges sage, vergisst du es sofort wieder.“ Thomas Lindau ist 45 Jahre alt, Elektrikermeister, dreifacher Familienvater – Zappelphilipp.

Vier Jahre voller Tests, Medikamentenwechsel und Therapien sind seit dem ersten Besuch beim Neurologen vergangen. Ein 500 Fragen dicker Katalog gefolgt von einem fünftägigen Aufenthalt im LVR-Klinikum Düsseldorf konnten Thomas Lindau schließlich überzeugen: Er hat ein Problem. Es liegt in seinem Kopf, und trägt den komplizierten Namen Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung – kurz ADHS. Umgangssprachlich wird die psychologische Störung auch „Zappelphilipp-Syndrom“ genannt.

„Ich schalte einfach ab“

„Ich wollte es lange Zeit nicht wahrhaben, und dachte: Das haben doch nur Kinder“, gibt Thomas Lindau heute selbstkritisch zu. Er sitzt im Wohnzimmer seines Reihenhauses. Seine Beine wackeln leicht. Er reibt seine Zeigefinger aneinander, fährt sich immer wieder durchs Haar. „Dass ich die Schuld für unsere Probleme trage, das konnte ich nicht akzeptieren.“ Ehefrau Sandra sitzt neben ihm, ihre Arme sind leicht verschränkt. Der mühsame Kampf gegen die psychische Störung ihres Mannes – er hat Spuren bei dem Paar hinterlassen und ist doch noch lang nicht vorbei.

Thomas Lindau hat schon viele Medikamente ausprobiert.
Thomas Lindau hat schon viele Medikamente ausprobiert. © Jakob Studnar

Zwar akzeptiert der 45-Jährige inzwischen sein Leiden, besucht neben einer Selbsthilfegruppe auch regelmäßig einen Ergotherapeuten. „Aber bis auf die Einsicht, dass ich eine ADHS habe, hat sich noch nicht viel geändert“, gibt er zu. Das größte Problem bereite ihm der Umgang mit Informationen und Abmachungen: „Meine Frau sagt mir etwas Wichtiges, und ich registriere das gar nicht, schalte stattdessen ab.“ Sogar an gemeinsam getroffene Vereinbarungen erinnere er sich später nicht. Regelmäßige Konflikte sind vorprogrammiert. „Nachher weiß ich oft gar nicht, was zum Zeitpunkt des Gesprächs in meinem Kopf vorgegangen ist.“ Lindau übt harsche Selbstkritik. Beinahe scheint es so, als spreche er über einen Fremden.

ADHS kann Depressionen zur Folge haben

Schätzungen zufolge leiden vier bis acht Prozent der deutschen Kinder und Jugendliche an einer ADHS. „Man geht davon aus, dass rund 50 Prozent der betroffenen Personen auch im Erwachsenenalter die Symptome im relevanten Maße zeigen“, erklärt Dr. Bernhard Kis, Oberarzt am LVR Klinikum Essen. Diese lassen sich in drei Kernbereiche aufteilen: Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität. „Nicht alle diese Symptome führen im Erwachsenenalter zu Problemen.“ Wie auch Thomas Lindau leiden dennoch viele Erwachsene an massiven Konzentrationsstörungen, erhöhter Ablenkbarkeit und andauernder innerer Unruhe. Außerdem entstünden bei betroffenen Erwachsenen häufig weitere psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Ängste.

Erhöhtes Suchtrisiko

In vielen Fällen wird ADHS mit dem verschreibungspflichtigen Wirkstoff Methylphenidat, besser bekannt als Ritalin, behandelt. Die Wirkung ist jedoch von Individuum zu Individuum unterschiedlich. „Einige Studien haben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Suchterkrankung gezeigt“, so Kis. Experten vermuten, dass Betroffene häufig versuchten, ihre Symptome mit Alkohol, Cannabis oder Amphetaminen zu dämpfen.

Thomas Lindau ist inzwischen bei seinem dritten Medikament angelangt, und enttäuscht: „Nachdem Methylphenidat auch in extrem hohen Dosen keine Wirkung bei mir gezeigt hat, hat mein Arzt mir ein Antidepressivum verschrieben.“ Doch auch bei dem Mittel blieben die erhofften Verbesserungen bislang aus. Am stärksten, bemerkt er, „hat mir bisher die Selbsthilfegruppe geholfen, die ich regelmäßig besuche.“ Mit Gleichgesinnten zu sprechen, das sei das beste Medikament.

Unheimlich kreativ

„Anders als Kinder in der Schule, haben Erwachsene seltener Probleme im Berufsleben“, erklärt Ulrike Vlk, Selbsthilfegruppen-Leiterin und Telefonberaterin für den Verein ADHS Deutschland. Im Erwachsenenalter suchten sich Betroffene häufig eine Nische in ihrem Interessensgebiet. „Sobald sie für etwas brennen, sind ADHSler sogar zu außergewöhnlichen Leistungen imstande“, so Vlk. Das bestätigt Sandra Lindau: „Wenn er möchte, kann mein Mann unheimlich kreativ sein.“ Einmal habe er ihr etwa einen Schminktisch getischlert. „Ich kenne keine zweite Frau, die so etwas besitzt“, sagt sie und lächelt.

Stattdessen verlagern sich die Probleme Erwachsener mit ADHS allerdings auf das private Umfeld. Bei der Arbeit gebe es klare Regeln. Zu Hause sei das anders, sagt auch Thomas Lindau. Kinder, Unordnung, Konfliktsituationen – zu viele Eindrücke überfordern ihn. „Manchmal“, sagt Sandra Lindau, „fühlt es sich an, als hätte ich vier statt drei Kinder.“ Neben den Problemen bei der Informationsaufnahme sei auch die hohe Ablenkbarkeit ihres Mannes problematisch. Thomas Lindau bestätigt das: „Oft bin ich so abgelenkt, dass ich drei- bis viermal so lange für eine Aufgabe brauche als andere Menschen. Und sei es eine Lappalie wie Abspülen.“ Das geht dann soweit, dass Sandra Lindau die Kinder – ein, fünf und neun Jahre alt – ungern unter der alleinigen Obhut des Vaters lässt. „Er übersieht Gefahren. Inzwischen muss unser Neunjähriger schon hin und wieder der Erwachsene sein“, sagt sie und ihr Ehemann stimmt ihren Worten mit einem leichten Nicken zu.

Kollegen sehen die Symptome als Macken

Lindaus Arbeitskollegen und Bekannte wissen nichts von seinem Problem. Und das solle auch so bleiben. „Ich habe Angst um meine Arbeitsstelle“, gibt er zu. ADHS habe so ein „Negativimage“. „Natürlich bemerken meine Kollegen die Symptome auch, tun sie aber als Macken ab, messen ihnen keine größere Bedeutung bei.“ Ähnlich wie seine Bekannten.

Inzwischen hat Thomas Lindau den Neurologen gewechselt, hofft darauf, dass ein neues Medikament endlich Abhilfe schaffen wird. Wie die Familie in die Zukunft blickt? „Abwarten“, sagt Sandra Lindau leise. „Aber wir warten schon sehr lange.“

Für Hilfesuchende – der Verein HDHS Deutschland

Für Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung oder Eltern von betroffenen Kindern bietet der Verein „ADHS Deutschland“ regelmäßig Selbsthilfegruppen-Treffen in verschiedenen Regionen an.

Über Treffen in Nordrhein-Westfalen informiert die Landesgruppe NRW im Internet unter www.adhs-nrw.de, per E-Mail: info@adhs-nrw.de oder telefonisch: 02403/ 506466

Wer sich telefonisch zum Thema ADHS beraten lassen möchte, kann in NRW Ulrike Vlk 02161 - 531739 oder Karin Knudsen 0221 - 3561781 kontaktieren.