Bochum. . Zum ersten Mal in der Geschichte werden Menschen mit Behinderung fast so alt wie Menschen ohne. Ihre Lebenserwartung liegt nun bei über 70 Jahren. Die gesellschaftliche Entwicklung hat allerdings ihren Preis: Die Verbände, die die Betreuung organisieren, sind mittlerweile hoch verschuldet.
Wolfgang Pohl liebt die Beatles – auch, weil sie ihn an seine eigene Jugend erinnern. Die Eisdiele, die Lederjacken, die Frisuren der Mädchen. Modelle alter Autos stehen heute in seinem Regal. Der 280er SL ist sein Favorit, ein Mercedes-Cabrio. Die Nachbarjungen haben ihn damals oft mitgenommen, wenn sie ausgingen. „Aber am liebsten hätte er wohl auch einen Führerschein gehabt“, sagt seine Schwester. Sie muss übersetzen. Denn Wolfgang Pohl ist geistig und körperlich behindert. Um seine Sätze zu verstehen, muss man einige Übung haben. Er lebt in Bochum, betreut von der Diakonie Ruhr. Sein Cabrio ist ein Rollstuhl, aber sein Lachen macht ihn jünger; denn Pohl ist schon 62 Jahre alt.
Die Lebenserwartung Behinderter liegt bei über 70 Jahren
Es gibt immer mehr Behinderte, die sich an die Beatles erinnern. Und das ist keineswegs selbstverständlich. Der Medizin sei Dank: Zum ersten Mal in der Geschichte werden Menschen mit Behinderung fast so alt wie Menschen ohne. Ihre Lebenserwartung liegt nun bei über 70 Jahren. Das ist Neuland für alle. Auch, weil Pohls Generation die erste ist, die in Deutschland das Rentenalter erreicht, nachdem die Nazis systematisch Menschen mit Behinderungen umgebracht haben. Zugleich haben sich die Überlebenschancen behinderter Kinder stark verbessert. Unter dem Strich steigt die Zahl der Behinderten also deutlich an.
„Unsere Gesellschaft wird nicht nur älter und bunter, sondern auch behinderter“, fasst der Sozialdezernent des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL), Matthias Münning, zusammen. Das hat Folgen, und man muss hier auch über Kosten reden. Denn die explodieren geradezu. Die Ausgaben für „Eingliederungshilfen“, so heißt es im Fachjargon, machen mittlerweile über die Hälfte aller Sozialhilfezuweisungen in Deutschland aus. Die Landschaftsverbände organisieren die Betreuung von Behinderten im Lande und sind mittlerweile hoch verschuldet. 55 Millionen Euro fehlen allein dieses Jahr in Westfalen-Lippe. Und im Rheinland sieht es nicht viel anders aus.
Arbeit für Behinderte
Natürlich fordern die Verbände jedes Jahr aufs Neue eine Umlageerhöhung von den Städten, die sie maßgeblich finanzieren. Und mit den Städten zusammen schütteln sie das Land – und bohren beim Bund, auf dass der sich endlich beteiligen möge an den Kosten. Stand der Dinge: Die Regierung will nun endlich verhandeln – in der nächsten Legislaturperiode.
Das ganze System ist im Umbruch. Altersheime, Pflegedienste, Krankenhäuser – alle müssen sich einstellen auf die neue alte Klientel. Und wie kann man all die Menschen günstiger und zugleich besser unterbringen?
Herr Pohl zum Beispiel ist im Mai umgezogen. Aus einem Wohnheim in ein „Betreutes Wohnhaus“ in Bochum-Weitmar. Hier bewohnt er ganz allein eine 54-Quadratmeter-Wohnung, Konzerttickets von den Stones und Rod Stewart schmücken seine Tür. Pohl kann zwar nicht lesen oder schreiben, aber sein Computer liest ihm vor, die Musik sucht er nach Plattencover aus, und wenn der spastisch Gelähmte mal was schreiben will, hilft ihm ein Pfleger. Ebenso wie beim Einkauf im Supermarkt, denn Einheitsküche gibt’s nicht mehr. Tag und Nacht ist jemand da für die Bewohner. Pohl fühlt sich freier – und eingebundener zugleich.
Die Eltern sehen das "Betreute Wohnen" anfangs oft kritisch
Das „Betreute Wohnen“ war bis vor wenigen Jahren die Ausnahme. Mittlerweile ist es in Bochum die Regel. Auch weil es je nach Unterstützungsbedarf rund zehn bis 50 Prozent günstiger ist als ein Wohnheimplatz. Doch zugleich verspricht das Konzept mehr Teilhabe. „Ich habe zunächst abgeraten“, sagt der 87-jährige Vater, Paul Pohl. „Im Heim musst Du dich ja um nichts kümmern. Aber ich habe nicht Recht gehabt. Man traut ihnen einfach nicht so viel zu.“
„Jetzt muss ich wieder selber denken“, scherzt der Sohn.
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Die neue Freiheit wird ja tatsächlich meist aufwendiger für die Angehörigen. Zumindest anfangs. „Aber wir sind jetzt auch viel öfter hier, weil es uns besser gefällt“, sagt die Schwester. Die Wohnung ist privater, persönlicher. „Jeder Fall ist unterschiedlich“, weiß Reinhard Jäger, Leiter der Diakonie Ruhr. „Aber in jedem Fall sinkt der Hilfebedarf.“ Verantwortung hält jung.
Wolfgang Pohl jedenfalls ist zwar der älteste Bewohner, aber noch gut zurecht, obwohl die Muskeln ständig krampfen. Auch der Rücken und die Haut sind empfindlicher geworden, aber Pohls moderner Rollstuhl kann sein Gewicht verlagern. „Und das Haus ist auf diese Dinge ausgerichtet“, sagt Jäger. „Das Alter wird sich so entwickeln, wie es sich auch Zuhause entwickeln würde.“ Pohl lacht, die Schwester übersetzt: „So fit wie Papa möchte ich mit 87 auch sein.“