Essen/Potsdam. . Herrschen in Deutschland zunehmend “amerikanische Verhältnisse“? Der Notfallpsychologe Gerd Reimann beobachtet zumindest, dass extreme Konflikte in Familien sich häufen. Und immer öfter enden diese Streitigkeiten in gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Extreme Konflikte in Familien – der Notfallpsychologe Dr. Gerd Reimann aus Potsdam ist Experte für solche Fälle. Doch immer öfter schlagen die Streitereien in Gewalt um.

Man hat den Eindruck, dass bei Familienstreitereien immer häufiger Menschen zu Tode kommen – trifft das zu?

Gerd Reimann: Delikte dieser Art häufen sich, das kann ich aus meiner Sicht als Notfallpsychologe bestätigen. Allerdings kommt hinzu, dass auch die Medien diese Fälle immer stärker in den Fokus nehmen. Unabhängig davon: Die Fallzahlen steigen.

Herrschen in Deutschland immer stärker „amerikanische Verhältnisse“ – und falls ja, was könnten die Gründe dafür sein?

Reimann: Ja, insofern auch bei uns die Sozialsysteme immer brüchiger werden: Partnerschaften gehen auseinander, Familien zerbrechen, es gibt weniger soziale Bindungen. Das heißt natürlich nicht, dass immer Gewalttaten folgen. Im Extremfall können Menschen aber so stark entwurzelt werden, dass sie als einzigen Ausweg das Auslöschen ihrer Familienmitglieder sehen.

Reagieren Männer anders als Frauen, wenn es in Familien zu Extremsituationen kommt?

Reimann: Ja, da gibt es in jedem Fall Unterschiede. Zur Dortmunder Tragödie kann ich natürlich nichts sagen. Aber generell gibt es bei Frauen meist zwei Gründe, die zu einer so schwerwiegenden Tat wie einer Kindstötung führen: Meist liegt entweder eine Erkrankung wie eine Schwangerschaftsdepression vor, welche im Extremfall die Tötung des Neugeborenen zur Folge hat. Die Tat wird dann häufig zu vertuschen versucht. Oder eine Überforderungssituation kann der Auslöser sein, zum Beispiel, wenn die Familie sich zurückzieht oder die Partnerschaft in die Brüche geht. Die Frauen kommen dann an ihre Grenzen und begehen diese Kapitalverbrechen. Bei Männern sind solche Gewalttaten eher großes Theater, oft sind es ja regelrechte Inszenierungen. Dabei sind die Männern meist nicht existenziell überfordert, es geht eher um ein tiefes Verletzt-Sein. Die Täter wollen dann der Welt zeigen: „Ich kann auch anders.“