Essen. 1952 kidnappte die Stasi Horst Hölig aus Hamm, folterte ihn und sperrte ihn ein. Nun kämpft er vor dem Landessozialgericht um sein Recht. Kann unsere Justiz nach so vielen Jahren so viel Unrecht wiedergutmachen?

In Justizgebäuden holt die Deutschen nicht selten die Vergangenheit ein. Im Landessozialgericht in Essen vor dem Saal 2221 rechnet eine Ausstellung mit der braunen Justiz ab.

Hinter der Saaltür ist es in diesen Frühjahrswochen um die Folgen der roten DDR-Diktatur gegangen. Horst Hölig aus Hamm, 82, hat dort geklagt. Er war Opfer der Stasi-Folter. Er forderte eine Entschädigung „für die Verbrechen, die die an meinem Körper gemacht haben“.

Schergen verschleppten ihn

Heinz Höligs Geschichte ist Teil des Kalten Krieges. 1951 floh er aus Thüringen in den Westteil Berlins. Er betrieb einen Kiosk, erzählte vom Leben im anderen Deutschland. Zu viel wohl. Stasi-Boss Mielke ließ den 22-jährigen kidnappen. Die Schergen überfielen ihn, drehten Hölig die Arme auf den Rücken und verschleppten ihn.

Es war der 18. März 1952 und der Beginn eines fünfjährigen Leidens als „Spion“ in fensterlosen Zellen und mit Verhörnächten ohne Schlaf. Mit massiven Stiefeltritte. Mit harten Schlägen. Mit der Drohung, „wenn du uns nichts sagst, überlebst du die nächsten Minuten nicht“. Das hat ihn psychisch und körperlich krank gemacht. Es hat ihn nicht gebrochen.

Hölig hat die fünf erniedrigenden Jahre bis zu seiner Entlassung in den Westen 1957 zum Kampf seines Lebens gemacht. Er hat vom wiedervereinten Deutschland seine Rehabilitation eingefordert, was gelungen ist, und eine Wiedergutmachung von Stasi-Boss Mielke persönlich verlangt, was scheiterte. Er hat alles mit Engagement, Mut und auch Wut getan, weiß jetzt der Vorsitzende Richter Paul-Heinz Gröne am Landessozialgericht.

Hölig fordert einen Rentenaufschlag

Gröne hat die Akte Hölig bis in die Nächte gelesen. Es ist eine komplizierte Sache. Es mischen sich Arztgutachten und Sozialvorschriften mit Emotionen und Historischem. Hölig will einen Rentenaufschlag vom Landschaftsverband LWL, weil er in der DDR-Haft an Tuberkulose erkrankte. Die Haftärzte hätten Streptomycin gespritzt. Das schädige angeblich das Gehör. Er sagt, deshalb sei er fast taub.

Der alte, aber wache Mann hat sich für die Verhandlung eine neue Batterie fürs Hörgerät gekauft und eine politische Rede zurechtgelegt. Er will klar machen, was ihm die Gemeinschaft nach dem erlittenen Leid doch schuldet.

Es ist eine gewisse Tragik, dass der Richter die deutsche Geschichte bei einem Rentenurteil nicht so bewerten darf, wie Horst Hölig das erwartet. Das Bundessozialgericht schreibt einen genauen Nachweis der Ursache einer Schädigung vor. Der Vertreter des LWL sagt das auch. Mehrfach. Er trifft die Schwachstelle in Höligs Kampf.

Wahnsinnige Schmerzen in der Haft

Bebend hat dieser Mann – „Ich bin Kläger, kein Angeklagter“ – vor dem Richtertisch gestanden. „60 Tabletten bekam ich. Täglich“. Auch an die Spritzen kann er sich erinnern, „ich habe wahnsinnige Schmerzen gehabt“, und natürlich an das Kommando 5. Im Kommando 5 im Lager waren doch nur die TBC-Kranken. Die bekamen Streptomycn. Alle. Das wusste man doch. Damals. 1955. In der DDR.

In Essen im geeinten Deutschland 2012 weiß das niemand. Leider ist der letzte Mithäftling aus dem Kommando 5 verstorben. Nirgendwo in den Akten der Stasi-Unterlagen-Behörde steht, dass der heute 82-jährige in der Haft an TBC erkrankte. Es war immer so: Die Geschichte kann die großen Täter zitieren. Sie weiß kaum, was die kleinen Opfer fühlten.

„Es spricht viel dafür, dass der Kläger während der Haft infiziert wurde“, sagt der Richter, aber er sagt auch: „Es ist keine Stelle dokumentiert, die belegt, dass man Ihnen Streptomycin gegeben hat. Das ist eine vage Vermutung“.

Hölig vermutet auch einiges. Dass zum Beispiel Akten verschwunden sind. Nicht zu DDR-Zeiten. Später. Aber das wird hier nicht aufgerollt. Hier geht es um das Sozialgesetzbuch. „Der Sachverhalt lässt sich nach den vielen Jahren nicht mehr aufklären“, sagt Richter Gröne, und doch will er eine angemessene Lösung: „Sie haben viel erlitten“. Könnte die Schwerhörigkeit nicht, zum kleinen Teil, Folge der Schläge sein?

Ein bisschen Frieden

Die Gedanken des Richters hat der Kläger nicht mitbekommen. Die Batterie des Hörgerätes hat aufgegeben. Er ruft noch immer „Ich stehe hier als Opfer eines Verbrecherregimes“, als Paul-Heinz Gröne längst einen Vergleich in Euro und Cent ausrechnet.

Hölig wird etwas mehr Rente bekommen. Nicht so viel, wie er wollte. Aber rückwirkend ab 2003. Sein persönlicher Kampf ist beendet. Den für andere Opfer führt er weiter. Gerade hat Pro7 seine Geschichte nachgedreht. Sendetermin ist der 18. Juni, zeitnah zum Jahrestag des Aufstands von 1953. Auch etwas Wiedergutmachung.

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