Ruhrgebiet. . Weg von der Platte: Ralf hat es aus eigener Kraft geschafft -obwohl ein harter Winter unter freiem Himmel ihm beide Beine genommen hat.

Die Anderen haben nicht überlebt. Keiner von ihnen. „Alle, die ich kannte, sind tot.“ Ralf aber hatte eine Wahl. Er traf seine Entscheidung in jenem eisigen Winter, als er erwachte aus dem Kälte-Koma, und seine erfrorenen Füße waren weg. „Arsch hoch von der Platte, oder in sechs Wochen hast du dich totgesoffen.“

Ralf heißt nicht Ralf; sein Name ist das Einzige, das er in seinem neuen Leben nicht geändert hat. Aber er will nicht, dass jemand sein altes Leben erkennt und ihn darin: Obdachloser. Säufer. Bettler. Einer, der als Junge auf die Straße geriet und später immer wieder, drei Jahre vielleicht, insgesamt. Man verliert mit den Strukturen auch die Zeit. Die Sache mit den Füßen, so sieht er das, war eine „Notbremse, die der da oben für mich gezogen hat“. Er hatte keine Unterschenkel mehr und ist trotzdem wieder aufgestanden.

Die Menschen in diesem neuen Leben, in dem „Ralf“ als Hausmeister arbeitet, sich um alte Menschen kümmert und sehr bürgerlich wohnt, kennen seine Geschichte nicht. „Sie glauben sie nicht, und sie verstehen sie auch nicht.“ Er erzählt ihnen, er habe seit einem Unfall knieabwärts keine Beine mehr. Dabei hatte er seinen Halt schon viel früher verloren: Die Mutter starb, da war er 14, der Vater ging nur acht Monate später.

Der Reiz des Abenteuers

Vielleicht war es anfangs der Nervenkitzel, der Reiz des Abenteuers für einen verwaisten Jugendlichen: „Mit Leuten abhängen, saufen bis morgens.“ Auf der Straße waren Leute zum Reden, aber niemand stellte Fragen, „deine Geschichte will da keiner hören“. Es geht nur um den nächsten Schnaps. „Da läuft immer der eine Film ab, wenn man süchtig ist.“ Ein paar Münzen schnorren, den Pfarrer fragen, ob er ‘ne Knifte übrig hat. Und die Probleme ertränken. „Dann kommt ein bisschen das Vergessen.“

Es gab Phasen, da ist Ralf auch wieder sesshaft geworden, eine Lehre auf Zeche, Beziehungen, aber wenn irgendwas kaputt ging, dann war er wieder draußen und fand nicht zurück. „Ich hatte keine Idee wie. Hab einfach versucht, nur zu leben.“ Allein unter Einzelgängern, man wird als Obdachloser so. Das Schlimmste waren die Winter, „diese Kälte, da trinkt man, bis man nicht mehr kann“. Ralf weiß nicht, wer ihn damals fand, wer Hilfe geholt hat im letzten Moment. Einen Bekannten haben sie angesteckt, schlafend auf einem Abluftgitter. Der hatte weniger Glück.

Für Ralf öffnete sich „ein neues Kapitel im Lebensbuch“, so sagt er das, „Arsch an die Wand kriegen“ ist die Sprache, die in sein altes Leben gehört. Dass vor dem letzten Absturz auf die Straße seine eigene Frau ihn rausgeworfen hat, die Mutter seiner Kinder, hat ihm „das Genick gebrochen“, aber nicht den Willen zu leben. Er zog seine Prothesen an wie Schuhe, lernte wieder laufen und ging zurück auf Arbeits- und Wohnungsmarkt. Nur wollten sie ihn dort nicht, den Kerl aus dem Männerwohnheim, gerade trocken und auch noch behindert. „Klingt nach Alkos und Pennern und was nicht alles.“

Dabei wollte er arbeiten und konnte sich mit dem Geld vom Amt, das ihm noch zustand, eine Wohnung „gönnen“. Gönnen: Schön war es nicht, was er nach viel Ablehnung endlich bekam. Matratze auf dem Boden, gebrauchter Kühlschrank, „egal, es war mein Eigenes“. Von hier zog er aus, sich zu bewerben, persönlich meist, zu beweisen, „dass ich pünktlich bin und zuverlässig“. Sie reichten ihn von einer „Maßnahme“ zur anderen; wenn er Glück hat, verlängern sie ihm bald die aktuelle. „Es ist ein langer Weg“, nicht nur für einen Gehbehinderten, und meist geht er ihn allein.

Stein für Stein wieder aufgebaut

Er ist auch noch mal umgezogen in der Zeit, hat „Stein für Stein wieder aufgebaut, die ganzen Trümmer hinter mir gelassen“. Jetzt, wo Ralf wieder wohnt, hätte er’s gern schön, „ich bin so erzogen, dass man es sich gemütlich macht“. Eine Zeit lang muss er das vergessen haben, aber nun, was soll man sagen: Wer bei Ralf nackte Isomatte in gewissem Nichts erwartet hat, findet eine Fülle, die fast spießig wirkt. Seidenblumen, Topfpflanzen, Kerzen, Engelchen, Untersetzer aus London und Paris, passendes Frottee vor und auf dem Klo. Jahre hat das gedauert, Ralf hat gespart, nebenher das Straßenmagazin „Bodo“ verkauft, jeden Extra-Euro zum Flohmarkt getragen. „Eins nach dem anderen“, auch der Wohnzimmer-Schrank „ist vom An- und Verkauf“, aber man sieht es ihm nicht an. „Man verbringt“, sagt Ralf in seinem Sessel und stellt mit beiden Händen die Unterschenkel um, „ja sein halbes Leben in so einer Wohnung.“ In seinem Fall etwas weniger.

Drei Mahlzeiten am Tag

Bloß redet er darüber nicht mehr gern. „Kopp hoch, nach vorn schauen“, sagt er immer, Ralf hat sich „nie hängen lassen, egal, wie tief unten ich war“. Aber er hört die Leute stöhnen, und dann will er ihnen zurufen (manchmal tut er’s auch): „Sei froh, du hast ein Dach überm Kopf und drei Mahlzeiten am Tag.“ Und du bist im Sozialstaat Deutschland, „woanders gibt’s gar nichts“.

Ralf ist jetzt 47 Jahre alt, seit 16 Jahren trocken. Und drinnen. Auf die Straße zurück „möchte ich mein Leben nicht mehr“. Man hat ja nur ein Leben, glaubt Ralf, der zwei hatte. Der Letzte da draußen, den er noch gekannt hat, „ist im Januar gestorben“.