Essen. . Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund werden mit Vorurteilen überhäuft und oftmals unterschätzt. Dabei gibt es reichlich Beispiele, fernab vom Klischee, von Unterdrückung Zwangsheirat und “Ehrenmord“.
Es gibt deutsch-türkische Schauspielerinnen (Sibel Kekilli), Ministerinnen (Aygül Özkan) und Moderatorinnen (Nazan Eckes). Deutsch-Türkinnen, die sich für den Playboy ausziehen (Sıla Sahin) und Bücher gegen den Islam schreiben (Necla Kelek). Im Bewusstsein der meisten hat sich jedoch das Bild der schwachen, unterdrückten Frau eingenistet. Nach 50 Jahren türkischer Einwanderung scheinen Zwangsheirat und „Ehrenmord“ wahrscheinlicher als Selbstbestimmtheit und Karriere. Eine Migrationsforscherin – und drei weitere Gegenbeispiele.
Die Migrationsforscherin
Prof. Dr. Yasemin Karakasoglu ist Konrektorin für Interkulturalität und Internationalität an der Uni Bremen. Bereits 2004 erforschte sie im Auftrag des Bundesfrauenministeriums die Orientierungen von Mädchen aus Zuwandererfamilien. Eines der zentralen Ergebnisse: Mädchen mit Migrationshintergrund werden oft unterschätzt.
„Es wird immer der Eindruck erweckt, dass sie in die Küche gesteckt werden und sich um ihre Geschwister kümmern müssen.“ Dabei werde die hohe Bildungsorientierung türkischer Eltern übersehen, die mehrere Studien nachgewiesen haben und die laut Karakasoglu auch für die Töchter und Enkelinnen gilt. Der Unterschied zu den Jungs: Von den Mädchen werden nicht nur gute Noten erwartet, sondern auch, dass sie in die Familie eingebunden sind.
Was von außen betrachtet als Handicap erscheine, „die mangelnde Zeit für Entspannung und Freizeit, Einschränkungen bei Kontakten“, sei zugleich eine Quelle, aus der die Mädchen große emotionale Kraft schöpften. Und: „Die auf Anpassung und Wohlverhalten ausgerichtete Erziehung wirkt sich besser auf die schulische Bildung aus.“ Natürlich wollen viele auch ausbrechen aus den familiären Strukturen – und schaffen dies am besten durch Bildung. Karakasoglu: „Die Mädchen erlangen Freiräume durch die Sicherheit, die sie ihren Familien vermitteln. Nach dem Motto: Ich bin unseren Traditionen treu, aber ich möchte in Berlin studieren. Das ist eine Art Generationenvertrag im Migrantenmilieu.“
Die Rechtsanwältin
Schon als Kind wollte Cigdem Deniz Sert Anwältin werden. „Ich wollte mich sozial engagieren, für die Rechte von Unterdrückten kämpfen, am liebsten bei Amnesty International.“ Ihre zugewanderten türkischen Eltern machte die in Duisburg Geborene mit ihrer Berufswahl überglücklich. „Die sind stolzer darauf als ich“, erzählt sie lachend.
Bildung habe immer Vorrang gehabt zu Hause: „Unsere Eltern wollten, dass wir studieren, gute Berufe haben und auf eigenen Beinen stehen.“ Es ärgert die 35-Jährige, dass Konflikte in türkischen Familien immer auf die patriarchalen Strukturen geschoben werden: „Nicht, dass es die nicht gibt, aber es ist falsch, alles darauf zu beziehen.“ Zugewanderte Frauen bräuchten ganz klar Hilfe: „Sprachkurse, Kinderbetreuung.“ Die hier Geborenen seien jedoch nicht per se hilfebedürftig: „Diese Mädchen sind Teil dieser Gesellschaft. Wenn überhaupt, dann haben sie ein soziales Problem, kein migrantisches.“
Die Schauspielerin
Ihre Eltern sind Mitte der 1960er Jahre ausgewandert, um bessere Bildungschancen für ihre Kinder zu finden. Der Vater Lehrer, die Mutter gelernte Hauswirtschafterin waren sie die große Ausnahme unter all den Ungelernten. Günfer Cölgecen, die erst als Fünfjährige von den Eltern nachgeholt wurde, wuchs auf mit „sehr viel Bildung, Toleranz und Weltoffenheit“. Als sie jedoch eines Abends die Initialzündung hatte – „Ich ging in Oberhausen aus dem Theater und wusste: Ich werde Schauspielerin!“ – konnten ihre Eltern die Begeisterung nicht teilen. Ärztin oder Anwältin, das hätten sie sich gewünscht für sie. Heute sind sie stolz auf ihre Tochter, die Schauspielerin, Regisseurin und Theaterpädagogin.
Oft suchen junge Deutsch-Türkinnen nach einer Aufführung das Gespräch mit der 44-Jährigen. Sie macht ihnen Mut, ihren Weg zu gehen. „Ich hatte selbst kaum Vorbilder.“ Von allen anderen wünscht sie sich, dass sie keine „Entweder-oder-Geschichte“ von den Mädchen verlangen, keine eindeutige Entscheidung für oder gegen ihre Herkunftskultur. „Es gibt auch widersprüchliche Lebensentwürfe.“
Die Psychologin
Vier Kinder, vier Mal Abitur. Das ist der sensationelle Schnitt der Arbeiterfamilie Koca aus Duisburg. Als Özgül Koca für das zweitbeste Abschlusszeugnis geehrt wird, verstehen ihre Eltern überhaupt nicht, was los ist. Die Tochter muss es ihnen übersetzen. „Wir sind streng erzogen worden“, sagt die 32-jährige Diplom-Psychologin, die sich bald als Therapeutin niederlassen wird. „Aber wenn es um die Schule ging, durften wir alles: Klassenfahrt, Schwimmunterricht.“
Auch wenn die Eltern von Bildung wenig Ahnung hatten: Die Kinder sollten es einmal besser haben als sie, die als Kurden Unterdrückung in ihrem Heimatland erlebt hatten. „Wenn jemand um meine Hand anhielt, sagte mein Vater Nein, meine Tochter wird studieren.“ Heute ist Özgül sogar froh, dass sie so wenig Hilfe hatte: „So musste ich alles selbst schaffen.“ Die Kultur ihrer Eltern hat sie trotz allem immer als Bereicherung betrachtet, niemals als Konflikt.