Duisburg. Eine Duisburgerin betreibt seit sechs Jahren einen ambulanten Pflegedienst, der sich besonders an türkische Migranten der ersten Generation richtet.
Kaum hat Asiye Acar den Motor angelassen, klingelt das Handy. „Ich hab' drei Stück”, sagt Acar, während sie in ihrer Handtasche kramt, „und die sind vierundzwanzig Stunden eingeschaltet.” Ein Service, den ihre Kundschaft zu schätzen weiß. Die Duisburgerin betreibt seit sechs Jahren einen ambulanten Pflegedienst, der sich besonders an türkische Migranten der ersten Generation richtet. Inzwischen alt und gebrechlich, sind sie auf Hilfe angewiesen – sprechen oft aber immer noch kaum ein Wort Deutsch. Beim Pflegedienst „Deva” ist fast immer ein Muttersprachler an der Strippe: Zehn von zwölf Mitarbeitern haben türkische Wurzeln.
Die Liste der Beschwerden
Das Klingeln hat aufgehört, Asiye Acar mal wieder einen Hörer am Ohr. Am anderen Ende der Leitung: eine von Acars ersten Kundinnen, genannt Omma. Die plappert los wie ein Wasserfall, Acar kommt kaum dazwischen. „O-m-m-a! Okay, ich komm gleich vorbei!” Ein bisschen muss Omma noch warten. Erst ist „Tante Bayzer” dran, „die lebt alleine, hat Depressionen, Diabetes, ist suizidgefährdet, war oft in der Psychiatrie, ist antriebsarm und nimmt ihre Medikamente nicht.” Asiye Acar rattert die Liste der Beschwerden herunter. Seit 16 Jahren arbeitet die 33-Jährige schon in der Pflege, hat viel gesehen. Ihre jetzige Klientel berührt sie besonders. Vielleicht, weil es ihre Eltern sein könnten.
Zwei Stockwerke sind es hoch zu Tante Bayzers Wohnung. Viel zu viele Stufen für eine Frau, die kein Gleichgewicht mehr findet. Körperlich nicht und für die Seele auch nicht. 60 Jahre alt, aber vom Leben gezeichnet, sitzt sie in der aufgeräumten Wohnküche, streckt den Arm zum Blutdruckmessen aus. Ehemann und Sohn haben sich das Leben genommen, die Tochter lebt in Belgien ihr eigenes Leben. „Was wäre ich nur ohne Asiye”, sagt Tante Bayzer immer wieder.
Tiefe Depressionen
„Achtzig Prozent der türkischen Frauen haben eine ähnliche Lebensgeschichte”, sagt Asiye Acar. „In jungen Jahren haben sie nicht an sich gedacht, sondern nur an die Familie. Jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind oder die Ehegatten verstorben, kommt alles hoch, und sie fallen in tiefe Depressionen.” Vereinsamt sei diese Generation – isoliert. Besonders die Frauen, oftmals Analphabeten wie Tante Bayzer. Acar: „Das ist sehr traurig für unsere Gesellschaft.”
Das Blutdruckgerät brummt und piept. 113 zu 70 steht auf dem Display. „Dein Blutdruck ist in Ordnung.” Dafür ist der Blutzucker ein bisschen nie-drig. „Hast du schon etwas gegessen?” Tante Bayzer schüttelt den Kopf. Es ist Ramadan. Asiye Acar kennt das. Auch wenn sie davon abrät, wollen auch – oder besonders – die Kranken nicht auf ihre Traditionen verzichten. Es ist das Einzige, was ihrem Leben noch Sinn gibt. Im Fastenmonat fährt Acar ihre Insulinpatienten deshalb schon im Morgengrauen an, oder am späten Abend. Und wenn die Werte schlecht sind, zwischendurch nochmal. Das müsste sie dann aus eigener Tasche bezahlen, sagt sie, doch sie kann nicht anders: „Ich hab ja auch eine Verantwortung gegenüber meinen Kunden.”
"Für unsere Patienten sind wir wie Töchter"
Hilfsbereit war die Deutsch-Türkin schon als Kind. Sie half der Mutter, ihre Geschwister zu versorgen, besonders einem gehbehinderten Mädchen. Kein Wunder, dass die Mutter ihr vorschlug, Krankenschwester zu werden: „Sie sagte, dann kannst du dich später um uns kümmern.” Bereut habe sie es nie, sagt Acar. Auch wenn 18-Stunden-Tage an den Nerven zerren, Urlaub ist seit Jahren nicht drin. „Für unsere Patienten sind wir wie Töchter", sagt Acar. Mit diesem Bild im Kopf geht sie an die Arbeit.”
Omma ist nicht alleine. Auf der Couch vor dem Fernseher lümmelt sich die Enkelin. Sie wohnt nicht freiwillig mit ihrer pflegebedürftigen Großmutter zusammen. Der Vater hat die Mutter getötet, seitdem ist sie hier. Die alte Dame strahlt ihre „Schwester” an, hält ihre Hand, küsst sie auf die Wangen. Warum sie angerufen hat, ist nicht wirklich ersichtlich. Doch Asiye Acar weiß Bescheid. Einfach nur kurz vorbeischauen, die Hand halten und ein kleiner Plausch.
Die Hemmungen sind groß
„Wir nehmen uns die Zeit", sagt sie. Trotz Gesundheitsreform und Wirtschaftskrise. Das kann man Nächstenliebe nennen - oder Selbstausbeutung. Für Acar ist es der einzige Weg, ihren Beruf auszuüben. In der türkischen Gemeinde ist sie damit erfolgreich. 90 Kunden hat der Pflegedienst „Deva” (Heilmittel), 80 Prozent davon Migranten. Bald schon soll es Filialen in Köln und Recklinghausen geben. Und dann: Kurzzeitpflege.
Die Hemmung vor solchen Einrichtungen ist groß, fast so groß wie das stärkste Tabu: die Eltern ins Heim zu geben. Das, so Asiye Acar, liege jedoch auch an den deutschen Strukturen, die viel zu wenig auf kulturelle Eigenheiten eingingen. Das werde sich in den nächsten Jahren ändern, glaubt sie, und auch die Einstellungen der Migranten. „Aber bis ein Türke in ein Altenheim kommt, das kann noch zehn Jahre dauern – mindestens.”