Duisburg. . Eine 85-jährige Duisburgerin rettet ein Kind vor einem Gewalttäter. Ein Vater wirft sich bei Soest vor ein Auto, um seinen Sohn zu schützen. Beide Heldentaten ereigneten sich in wenigen Tagen in NRW. Und dennoch sind sie selten. Forscher erklären, warum viele in der Not nur zuschauen.
Manchmal handeln Menschen gut, wenn nur der Instinkt sie leitet. Längeres Nachdenken hätte vermutlich auch die 85-Jährige aus Duisburg von ihrer Heldentat abgehalten. Die Frau hat ein siebenjähriges Mädchen gerettet. Sie schritt ein, als ein Mann das Kind von einem Spielplatz ins Gebüsch zerren wollte. Bezahlt hat sie ihren Mut mit Prellungen, Schürfwunden und einem gebrochenen Arm. Doch das Mädchen hatte großes Glück. Denn es gibt nicht viele wie die Heldin aus Duisburg, wie sie jetzt überall genannt wird.
„Die Bereitschaft, anderen in einer Notsituation zu helfen, nimmt ab“, sagt Thomas Feltes, Professor für Kriminologie an der Ruhruniversität Bochum. Veit Schiemann von der Opferschutz-Organisation Weißer Ring wählt deutlichere Worte: „Wir sind zu einer Gesellschaft von Wegsehern geworden. Kriminelle rechnen inzwischen sogar damit, dass niemand dem Opfer hilft.“ Deshalb würden sie auch bei Straftaten im öffentlichen Raum immer dreister, sagt Schiemann.
Viele haben Angst, bei der Hilfe zu versagen
Das Vogel-Strauß-Prinzip funktioniert jedoch nicht bei Menschen, die uns nahe stehen. Die Hilfsbereitschaft nehme deutlich zu, wenn wir das Opfer kennen, sagt Feltes. So ist auch das mutige Einschreiten eines Vaters zu erklären, der am Sonntag seinen zweijährigen Sohn auf einem Parkplatz bei Soest vor einem heranfahrenden Auto rettete. Der Mann hatte das Kind zur Seite geschubst, wurde selbst überrollt und dabei schwer verletzt.
Wissenschaftler erforschen schon länger die Hilfsbereitschaft von Menschen in Notsituationen. Warum schauen die einen nur zu, während andere einschreiten? Die Antwort hierauf ist nicht einfach. Labor- und Feldversuche belegen: Es gibt zahlreiche Faktoren, die die Hilfsbereitschaft hemmen oder fördern können. Einem Kind wird eher geholfen als einem Obdachlosen. Bei Dunkelheit eilen weniger Menschen zur Hilfe als am Tag. Auch die Sorge um die eigene Sicherheit spielt natürlich eine große Rolle. Viele hätten zudem Angst, bei der Hilfe nicht ‚perfekt’ zu sein und Fehler zu machen, erklärt Feltes.
Zeugen blockieren sich gegenseitig
In jedem Beobachter einer Straftat oder eines Unfalls läuft unbewusst eine Kosten-Nutzen-Rechnung ab, bei der die Vorteile der Hilfe gegen die Nachteile ankämpfen. „Zeugen eines Notfalls erleben einen Konflikt zwischen Mitmenschlichkeit, Verantwortung und eigenem Gewissen einerseits und rationalen und irrationalen Befürchtungen andererseits“, sagt Feltes. Eine Ausnahme sind Helfertypen, zu denen vermutlich auch die Retterin aus Duisburg zählt. Das sind Menschen, die instinktiv einschreiten, meist angetrieben von einer ausgeprägten Mitgefühl.
Forscher haben zudem einen paradoxen Zusammenhang festgestellt: Je mehr Zeugen bei einer Notfallsituation zuschauen, desto unwahrscheinlicher oder langsamer greifen Einzelne ein. „Wenn zu viele herumstehen, dann schreibt man die Verantwortung anderen zu: Irgendjemand wird sicher besser als ich in der Lage sein, Hilfe zu leisten“, erklärt Feltes diesen Effekt. Auch wird in einer größeren Gruppe zunächst die Reaktion der anderen beobachtet. Niemand will als erster vorpreschen. Die Zeugen blockieren sich gegenseitig.
Opfer fühlen sich verlassen
Umgekehrt gibt es jedoch auch einen Solidarisierungs-Effekt: „Wenn man sieht, dass andere bereit sind einzuschreiten, dann ist man auch selbst eher dazu bereit“, sagt Feltes. „Daher raten wir denen, die in Konflikten eingreifen wollen, sich immer an andere Umstehende zu wenden und diese zur Mithilfe aufzufordern.“ Der Weiße Ring warnt jedoch vor zu großem Mut. „Der Helfer sollte sich nicht selbst in Gefahr bringen“, sagt Schiemann. Jeder sei jedoch verpflichtet, die Polizei oder Rettungskräfte zu alarmieren.
Hätte die 85-Jährige aus Duisburg darauf gewartet, wäre es vermutlich zu spät gewesen für das Kind. Dann hätte es vielleicht die Erfahrung machen müssen, die vielen Opfern von Straftaten lange nachhängt: „Wenn niemand hilft, fühlt man sich total verlassen“, sagt Schiemann. „Die Betroffenen brauchen hinterher lange, bis sie der Gesellschaft wieder vertrauen können.“