Dortmund. Vor wenigen Tagen wurde im Dortmunder Nachtexpress ein Mann vor den Augen der Fahrgäste brutal verprügelt. „Unterlassene Hilfeleistung ist trauriger Alltag“, klagt die Opfer-Organisation Weißer Ring. Wissenschaftler erklären, warum viele gaffen, aber selten jemand hilft.
Jochen B. einen Helden zu nennen, wäre sicher übertrieben. Eigentlich hat der 39-Jährige etwas getan, das selbstverständlich sein sollte. Er hat vier Frauen geholfen, die in einem Dortmunder Nachtexpress von drei Männern belästigt wurden. Er ist einfach aufgestanden. „Jetzt ist Schluss, jetzt reicht’s. So geht man mit Frauen nicht um“, hat Jochen B. gesagt. Er war der einzige im vollbesetzten Bus, der sich den Tätern entgegenstellte. Er war mutig.
Alle sahen zu
Die drei Männer gaben zunächst Ruhe. Doch als Jochen B. ausstieg, bekam er die brutale Quittung. Ein Täter sprang ihm in den Rücken. Jochen B. stürzte an der Haltestelle zu Boden. Die Männer prügelten und traten auf ihn ein. Auch diesmal half ihm niemand: nicht die Fahrgäste und auch nicht die Servicekräfte der Stadtwerke, die im Bus saßen. War es Angst, war es Gleichgültigkeit? Oder geschah einfach alles zu schnell? Jochen B. schleppte sich schließlich schwer verletzt in den Nachtexpress zurück. Die Täter konnten fliehen. In Dortmund hat der Vorfall, der sich vor wenigen Tagen ereignete, eine Debatte über mangelnde Zivilcourage entfacht.
„Unterlassene Hilfeleistung ist mittlerweile trauriger Alltag in Deutschland“, sagt Veit Schiemann, Sprecher der Opferschutz-Organisation Weißer Ring. „Wir sind zu einer Gesellschaft von Wegsehern geworden.“ Die Folge: Die Täter würden immer dreister, schlügen immer häufiger in der Öffentlichkeit zu. Sie vergewaltigen, rauben und prügeln vor Publikum. „Kriminelle rechnen inzwischen damit, dass niemand dem Opfer helfen wird“, sagt Schiemann. Für die Opfer selbst sei das Erlebnis dadurch umso schlimmer. „Sie fühlen sich im Stich gelassen und wertlos“, sagt Schiemann. Das Trauma, das die Tat oftmals auslöse, werde noch verstärkt. „Jeder, der nicht hilft, wird zum Mittäter. Zuschauen ist so, als habe man selbst zugeschlagen.“
Je mehr Zuschauer, desto geringer die Chance auf Hilfe
Ein Mann ertrinkt vor den Augen hunderter Besucher eines Hafenfestes, eine Studentin wird am Nachmittag in einem Parkhaus erstochen, obwohl sie laut um Hilfe schrie, ein Behinderter wird in der S-Bahn verprügelt – immer wieder machen spektakuläre Fälle von unterlassener Hilfeleistung bei Unfällen und Straftaten Schlagzeilen. Wissenschaftler haben herausgefunden, warum in solchen Situationen viele gaffen, aber selten jemand hilft.
Dabei haben sie einen paradoxen Zusammenhang festgestellt. „Je mehr Menschen vor Ort sind, desto geringer ist die Chance auf Hilfe“, sagt Hans-Dieter Schwind, Professor am Lehrstuhl für Kriminologie der Ruhruniversität Bochum. Zum einen liegt das daran, dass in einer größeren Gruppe zunächst die Reaktionen der anderen beobachtet werden. Aus Angst vor Blamage will niemand vorpreschen. So blockieren sich die Zeugen gegenseitig. Zum anderen fällt es in einer größeren Gruppe leichter, die Verantwortung auf andere zu schieben.
Warnung vor zuviel Mut
Darüber hinaus haben die Forscher in Labor- und Feldversuchen zahlreiche Faktoren identifiziert, die die Hilfsbereitschaft hemmen oder fördern. In einer einsamen Gegend wird ebenso unwillig geholfen wie bei Dunkelheit. Einer jungen Frau eilen mehr Menschen zur Hilfe als einem Obdachlosen. Wer gute Laune hat, ist hilfsbereiter. Weitere Faktoren sind Zeitdruck, die Gefährlichkeit der Situation oder Gewissensbisse.
All dies fließt ein in eine Kosten-Nutzen-Rechnung, die in fast jedem Zeugen unbewusst abläuft. Eine Rechnung, bei der die Vorteile der Hilfe gegen zahlreiche Nachteile ankämpfen – und die eigene Person im Mittelpunkt steht. „Eine solche Abwägung machen die meisten“, sagt Hans-Dieter Schwind. Es gebe jedoch auch Helfertypen, Menschen, die instinktiv einschreiten. „Sie sind meist besonders empathisch, das heißt, sie können die Lage des Opfers gut nachempfinden.“
Doch der Weiße Ring warnt vor allzu großem Mut. „Der Helfer sollte sich auf gar keinen Fall selbst gefährden“, sagt Veit Schiemann. Von direkten Angriffen rät er dringend ab. Helfer sollten sich Verbündete suchen. Gemeinsam könne man den Täter unter Druck setzen. Und natürlich sei jeder verpflichtet, falls nötig, sofort die Polizei oder Rettungskräfte zu rufen. Dem Opfer raten die Experten, nicht nur zu schreien, sondern Zuschauer persönlich anzusprechen und sie damit in die Verantwortung zu nehmen.
Unterlassene Hilfeleistung schwer nachzuweisen
Für die Servicekräfte der Stadtwerke könnte die Nachtexpress-Attaccke in Dortmund ein Nachspiel haben. Unterlassene Hilfeleistung ist strafbar. Es drohen Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr. „Doch unterlassene Hilfeleistung wird selten angezeigt, weil sie nur schwer zu beweisen ist, vor allem bei Unfällen und Straftaten in der Öffentlichkeit“, sagt Veit Schiemann vom Weißen Ring. In der NRW-Kriminalstatistik werden die Fälle wegen ihrer geringen Zahl unter Sonstiges erfasst. Und selbst wenn es zum Prozess komme, würden die Beschuldigten meist freigesprochen, sagt Hans-Dieter Schwind. „Dieses Gesetz ist ein zahnloser Tiger. Wer sich einen guten Anwalt nimmt, kommt fast immer davon.“
Von einer Erhöhung des Strafmaßes hält Schwind deshalb nichts. Helfen könne nur die Sensibilisierung durch Eltern, Lehrer oder Medien. Auch von der öffentlichen Ehrung der Helfer könne ein positiver Effekt ausgehen, sagt Schwind. Helfer, die öffentlich anerkannt werden, sind Vorbilder. Jochen B. wäre so ein Vorbild. Doch gerade sein Beispiel ist abschreckend. Der Preis für seine Hilfsbereitschaft sind Blutergüsse und gebrochene Knochen. Die Untätigkeit der anderen hat den Helfer zum Antihelden gemacht.