Ruhrgebiet. . Die Zahl der Grundschüler, die in Nordrhein-Westfalen von ihren Eltern zur Nachhilfe geschickt werden, steigt. Der Grund: die Angst der Eltern, dass ihr Kind eine schlechte Empfehlung für die weiterführende Schule bekommt.

Raus aus dem Unterricht, rein in die Lernverlängerung: Immer mehr Kinder bekommen schon im Grundschulalter Nachhilfe.

Kummer mit Mathe, auf Kriegsfuß mit Deutsch. „Alarmierend“ nennen die Experten der Bertelsmann-Stiftung Zahlen, die sie selbst erfasst haben: Allein im Fach Deutsch bekamen bereits im Jahr 2006 12,5 Prozent der Grundschüler in Nordrhein-Westfalen Nachhilfe. Tendenz steigend. Neue Erhebungen des deutschlandweit tätigen Anbieters „Studienkreis“ aus Bochum zeigen: Innerhalb eines Jahres hat sich der Anteil der Grundschüler an den Nachhilfeschülern fast verdoppelt. Im Dezember 2008 kamen NRW-weit sechs Prozent der Studienkreis-Schüler aus den Grundschulen, im Januar 2010 waren es schon elf Prozent.

„Die Kinder bekommen hier den letzten Kick“

Nicolas aus Dortmund ist einer von ihnen: acht Jahre, dritte Klasse, Probleme mit der Grammatik. „Nichts Ernstes“, sagt seine Mutter, „aber Nicolas bildet oft falsche Sätze.“ Für die Fächer Englisch und Deutsch bekommt er deshalb eine kleine Starthilfe. Zweimal die Woche, je eineinhalb Stunden. Nicolas sei kein schlechter Schüler. So wie viele andere, die trotzdem zur Nachhilfe gehen. „Die Kinder bekommen hier den letzten Kick. Ich sehe, dass es meinem Jungen gut tut und dass auch sein Selbstbewusstsein stärker wird“, sagt die Mutter. Im Grundschulalter sei die Nachhilfe eine spielerisch-lockere Ergänzung zum Unterricht und kein gnadenloses Pauken. Sie will ja nur ihr Bestes für ihr Kind – und verzichtet deshalb lieber darauf, selbst als Frau Lehrerin aufzutreten: „Wenn Eltern sich mit ihren Kindern zum Lernen hinsetzen, kann das Stress und Wutausbrüche zur Folge haben.“

Experten gehen davon aus, dass die Nachhilfe vor allem dann interessant wird, wenn der Wechsel auf die weiterführende Schule näher rückt. Derzeit spricht in Nordrhein-Westfalen noch die Grundschule eine Empfehlung aus. „Ist doch klar, dass keine Mutter ihr Kind gerne auf der Hauptschule sehen möchte“, sagt Nicolas’ Mutter. Auch deshalb kratzten einige Eltern ihr Geld zusammen, um ihrem Kind frühzeitig Nachhilfe zu bezahlen – und damit womöglich die Empfehlung fürs Gymnasium einzukaufen.

„Ich bin gespannt, ob sich die Situation entspannt, wenn die Empfehlung für die weiterführende Schule auch in NRW nicht mehr von der Grundschule gegeben wird, sondern diese Entscheidung wieder den Eltern überlassen wird.“ Das sagt Rixa Borns von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Ihre Gewerkschaft kritisiert einen „Leistungsdruck an Grundschulen“. Auch, weil sich nicht jeder Nachhilfe leisten könne.

Büffeln bis der Arzt kommt – besser nicht. „Gerade Grundschüler sollten nicht überfordert werden“, warnt Dr. Andreas Richterich, Chefarzt der Helios-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bochum.

Eine Drei akzeptieren

Es könne nicht sinnvoll sein, dass ein sechs- oder siebenjähriger Schüler jeden Nachmittag zwei Stunden mit Lernen und Hausaufgaben verbringt. Richterich geht davon aus, dass nicht in jedem Fall die Nachhilfe bei Grundschülern wirklich notwendig ist. „Oft achten wir bloß auf die Noten. Wenn es dem Kind gut geht, sollten die Eltern aber auch mal mit einer Drei zufrieden sein.“ Verteufeln möchte er die Nachhilfe nicht: „Das muss der Einzelfall zeigen.“