Essen. .

Sie könnten es sich einfach machen, die Brüder Leygraf. Aber sie schwimmen gegen den Strom, erheben die Stimme gegen das pauschale Wegsperren vermeintlich gefährlicher Straftäter. Und ihre Stimme hat Gewicht.

Ausgerechnet zwei Brüder sind es, die im Justizapparat an herausragender Stelle arbeiten. Johannes Leygraf, 59 Jahre alt, ist Vorsitzender Richter des 4. Senates am Oberlandesgericht in Hamm. Er fiel auf, weil sein Senat in Anlehnung an Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Straftäter freiließ, gegen die nachträglich die Sicherungsverwahrung verlängert worden war. „Wir wurden dafür angefeindet“, erinnert er sich. Der kleine Bruder Norbert, zwei Jahre jünger und Professor, leitet an der Universität Duisburg-Essen das renommierte Institut für forensische Psychiatrie. In Fachkreisen gilt er als „Psychiatrie-Papst“, weil er bundesweit gebucht wird, um Straftäter in spektakulären Prozessen zu begutachten.

Am Wochenende sprachen die beiden vor der Strafverteidiger-Vereinigung NRW in der Philharmonie Essen. Das neue Gesetz zur Sicherungsverwahrung, seit 1. Januar in Kraft, war ihr Thema. Unerwartet sehr aktuell, weil erst am Donnerstag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wieder einmal die deutsche Praxis der nachträglichen Verlängerung abgelehnt hatte. Strafverteidiger hörten ihnen zu, aber auch viele Richter und Staatsanwälte.

Johannes Leygraf spricht von Etikettenschwindel

Johannes Leygraf, der Richter, übernahm den rechtlichen Teil. Im Kern geht es ja darum, dass die europäischen Richter nichts davon halten, dass in Deutschland Straftäter, die ihr Haftende vor Augen haben, ohne eine neue Tat durch die nachträglich verhängte oder verlängerte Sicherungsverwahrung länger im Gefängnis bleiben müssen, weil sie als gefährlich gelten. Schon deutsche Gerichte, allen voran Leygrafs Senat, hatten damit rechtliche Probleme und ließen Häftlinge frei. Grundsätzlich galten aber die 1998 und 2004 eingeführten Verschärfungen aus Gründen der Sicherheit. So sah das Bundesverfassungsgericht 2004 die Sicherungsverwahrung nicht als Strafe an, sondern als Maßregel. Und die dürfe rückwirkend verhängt werden.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte widersprach dieser Sicht 2009, denn tatsächlich seien die Sicherungsverwahrten ja in Strafanstalten untergebracht. Sie würden in der Praxis ebenso verwahrt wie Häftlinge. Einige der Betroffenen kamen danach in Freiheit, so dass die Bundesregierung ihr Gesetz zum 1. Januar 2011 änderte. Jetzt sollen sie nach dem „Therapieunterbringungsgesetz“ („THUG“) wegen psychischer Störung in besonderen Anstalten, etwa in Oberhausen, festgehalten werden. Also keine nachträgliche Strafe, sondern eine Art Gesundheitsfürsorge. „Etikettenschwindel“ nennt das Psychiater Norbert Leygraf. Seine Fachkollegen würden missbraucht vom Gesetzgeber: „Da sitzt einer jahrelang gesund im Gefängnis, und wir sollen ihn dann zum psychisch Gestörten erklären.“ Sein Bruder Johannes schätzt, dass dieses Gesetz „spätestens vom Bundesverfassungsgericht“ aufgehoben wird.

Sie werben für ihre rechtsstaatlich wie psychiatrisch begründeten Standpunkte. Natürlich wäre es das Einfachste, jeden mutmaßlich gefährlichen Menschen ein Leben lang einzusperren. Aber Psychiater Norbert Leygraf betont, dass es auch eine falsche Prognose sei, einen Menschen einzusperren, der in Freiheit nicht mehr straffällig würde, vom Staat aber keine Chance bekomme, das zu beweisen.

Aufruf zur Sachlichkeit

Zur Sachlichkeit rufen die Brüder Leygraf auf, vermitteln Informationen. Im Elternhaus haben die beiden den Hang zur Rechtsauslegung nicht gelernt. „Wir waren die ersten Akademiker in der Familie, die ersten mit Abitur“, erinnert sich Norbert Leygraf. Klavierbauer war der Vater, später Arbeiter. Mit der Justiz gab es im Elternhaus in Büderich am Niederrhein keine Berührungspunkte. Auch nicht nach dem Abitur. „Ich wollte Laborarzt werden“, sagt Norbert Leygraf, sein Bruder studierte zunächst Chemie. Dann wechselte er zur Juristerei, kam eher zufällig als Richter zum Strafrecht. Bruder Norbert spezialisierte sich erst spät in Richtung forensische, also Gerichtspsychiatrie. „Da war es hilfreich, einen älteren Bruder als Juristen zu haben.“ „Ich habe später viel von ihm gelernt“, gibt Richter Johannes das Kompliment zurück.