Essen. .
Sie haben gemordet, missbraucht oder gestohlen: Deutschland weiß nicht wohin mit seinen Schwerverbrechern. Denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die deutsche Praxis der Sicherungsverwahrung verurteilt. Der Stand der Dinge.
Ausgelöst durch sein erstes Urteil zur Sicherungsverwahrung in Deutschland vom Dezember 2009 verunsichert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seit mehr als einem Jahr die deutsche Justiz und auch die Öffentlichkeit. Was soll mit jenen Schwerstverbrechern passieren, deren Sicherungsverwahrung gegen die Menschenrechte verstößt? Müssen sie nun allesamt freigelassen werden, obwohl ihre Gefährlichkeit weiterhin befürchtet werden muss? Der Stand der Dinge:
Wie bindend sind die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) für die deutschen Gerichte?
Würde man die Richter des europäischen Gerichtshofes fragen, fiele die Antwort vermutlich eindeutig zugunsten der eigenen Kompetenz aus. Deutsche Gerichte haben sich in den vergangenen Monaten allerdings nicht der Entscheidung aus Straßburg angeschlossen. Man erwartet deshalb mit Spannung eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Karlsruhe, das am 8. Februar über vier ähnliche Fälle von Sicherungsverwahrten verhandelt. Das Urteil, das für deutsche Gerichte maßgeblich ist, dürfte Anfang Mai verkündet werden.
Welche Auswirkungen hatte der Urteilsspruch von 2009 bislang in Deutschland?
Einige Gerichte haben bereits der Freilassung von Sicherungsverwahrten zugestimmt. Zudem ist die Sicherungsverwahrung seit dem 1. Januar 2011 neu geregelt worden. Künftig gilt sie nicht mehr für Betrüger oder Diebe, sondern nur für Gewalt- oder Sexualverbrecher. Außerdem soll eine mögliche Sicherungsverwahrung bereits im Urteil festgelegt oder zumindest in Erwägung gezogen werden.
Für jene Täter, die nach dem europäischen Urteil freigelassen werden müssten, obwohl sie als gefährlich gelten, tritt ein sogenanntes Therapieunterbringungsgesetz in Kraft. Was heißt, dass sie in einer neuen Einrichtung sicher untergebracht werden können, wenn sie „psychisch gestört“ sind. In NRW soll dafür eine Einrichtung in Oberhausen geschaffen werden.
Ist diese Einrichtung denn mit den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vereinbar?
Das bleibt abzuwarten. Verfassungsrechtler rechnen jedenfalls mit einer Flut von Klagen. Denn bisher gibt es lediglich geistig und psychisch voll verantwortliche Straftäter, die inhaftiert werden und psychisch kranke Straftäter, die in forensischen Kliniken untergebracht werden. Jeder Straftäter wird vor Gericht psychiatrisch auf seine Schuldfähigkeit begutachtet. Sicherungsverwahrte Täter sind also nicht psychisch krank. Der Begriff „psychisch gestört“ ist neu.
Wie reagiert die Politik auf das neue Urteil aus Straßburg?
Nach der erneuten Rüge wächst in Berlin die Sorge, dass auch die seit 1. Januar geltende Regelung der Sicherungsverwahrung keinen Bestand haben wird. Der Grünen-Rechtsexperte Jerzy Montag kündigte eine Initiative seiner Fraktion an. Für ihn ist es „unglaublich, dass sich Deutschland nicht an die Vorgaben des EGMR hält“. Die Justiziarin der SPD-Fraktion, Zypris, erklärte, sie könne nur hoffen, dass der Bundestag mit dem seit 1. Januar geltenden Gesetz eine Lösung gefunden habe, „die auch trägt“.
Wie geht man im Ausland mit als gefährlich eingeschätzten Tätern um?
Eine nachträgliche Sicherungsverwahrung gibt es in Europa lediglich in Italien und eingeschränkt auch in der Schweiz. Dafür werden allerdings lebenslängliche Freiheitsstrafen in vielen anderen Ländern härter gehandhabt. In Lettland wird ein so Verurteilter frühestens nach 25 Jahren, in Irland nach 40 Jahren freigelassen. In mehreren Staaten, auch nach englischem Recht, bedeutet lebenslänglich tatsächlich eine Haft bis zum Lebensende.
Das niederländische Recht will gefährliche Hangtäter mit Nachdruck der Therapie unterziehen, bemüht sich parallel auch um deren Integration in die Gesellschaft. Dennoch kann am Ende auch die Einschätzung „nicht resozialisierbar“ stehen, mit der Folge der lebenslangen Verwahrung.