Aachen. .

Elf Sicherungsverwahrte muss Aachen wohl bald freilassen. Eine Belastungsprobe für die Stadt und die Polizei. Aber auch die Häftlinge misstrauen der Freiheit.

Als man sie wegsperrte, als sie ins Gefängnis gingen, da gab es noch keine Handys, nicht Hunderte von Fernsehkanälen, keinen Coffee to go, und überhaupt war unsere Konsumgesellschaft noch sehr viel gezähmter. Nun, Jahrzehnte später, steht ihre Entlassung in die Freiheit bevor. Allein in Aachen werden – wenn der Bundesgerichtshof das europäische Urteil bestätigt – von jetzt auf gleich elf Sicherungsverwahrte, Schwerstverbrecher eben, ins normale Leben zurückkehren. Der Fall Aachen, eine Stadt bereitet sich vor.

Er ist 74 Jahre alt, der älteste von ihnen. 30 Jahre am Stück hat er im Gefängnis verbracht. Zuerst, die Jahre der Haft, in Werl. Nun, als sicherungsverwahrter Sexualtäter, lebt er seit zwölf Jahren in der Justizvollzugsanstalt Aachen. Eine Zelle, ein geregelter Tagesablauf mit Wecken morgens um sechs, pünktlichem Mittagessen und abendlichem Einschluss um 20.30 Uhr.

Kürzlich durfte er in die Stadt, auf einer sogenannten Ausführung, begleitet von zwei Wachleuten. Die Psychologen sehen das als Training zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit. Und da waren all die Farben, da war der Lärm, die ganze bunte Konsumwelt. Er reagierte wie viele von ihnen. Völlig überfordert, gestresst sagte er zu den Wachmännern: „Lasst uns nach Hause gehen!” Und er meinte sein Gefängnis.

Was tun mit diesen Menschen?

Seit Monaten schon bereitet sich die Stadt Aachen darauf vor, dass elf der 62 in ihrem Gefängnis sicherungsverwahrten Schwerstverbrecher frei kommen könnten. Insgesamt werden es in NRW weit über 50 bis zum Jahr 2019 sein. Seit Monaten also sitzen sie an Runden Tischen, die Behördenleiter von Stadt, Polizei, und JVA, Staatsanwälte, Bewährungshelfer. Was tun mit diesen Menschen? Wohin mit ihnen? Wie können wir die Bürger schützen, wie dafür sorgen, dass nichts passiert?

Parallel laufen in der Justizvollzugsanstalt selbst die Ge­spräche mit den Sicherungsverwahrten. „Die anfängliche Freude, der Jubel über das Ur­teil ist längst einer Mischung aus Angst, Unsicherheit und Vorfreude gewichen”, sagt Mo­nika Isselhorst-Zimmermann, die Abteilungsleiterin Sicherungsverwahrung. Viele der Schwerstverbrecher hätten nur kurze Phasen ihres Lebens halbwegs selbstständig gelebt, zudem hätten die meisten über die Jahre im Gefängnis sämtliche Kontakte verloren.

Monika Isselhorst-Zimmermann, (Abteilungsleiterin der Sicherheitsverwahrung, und der stellvertretende Leiter der JVA Aachen, Karl Schwers
Monika Isselhorst-Zimmermann, (Abteilungsleiterin der Sicherheitsverwahrung, und der stellvertretende Leiter der JVA Aachen, Karl Schwers

Isselhorst-Zimmermann und ihr Team kümmern sich primär darum, welche Art der Unterbringung für die Männer die richtige sein könnte. Nach jetzigem Stand werden einige von ihnen in Alten- und Pflegeheimen untergebracht, weil sie alt und krank sind. Zwei wollen sich eigene Wohnungen nehmen, drei erst einmal in ein Hotel ziehen. Drei weitere kommen bei Verwandten oder Bekannten unter.

Wie schwer es ist, die Männer in sozialen Einrichtungen unterzubringen, bekommt die JVA-Abteilungsleiterin täglich zu spüren. So groß sind die Ängste, dass viele vage Zusagen später wieder zurückgenommen werden. Und erst vor wenigen Tagen hat ein Vermieter aus Aachen seine Bereitschaft, einen der Männer aufzunehmen, rückgängig ge­macht. Er hatte Genaueres über den Mann herausgefunden, den er aufnehmen sollte.

Noch ist es relativ ruhig in Aachen. Noch gibt es keine Bürgerinitiative, keine De­monstrationen. Wie es im schlechtesten Fall laufen kann, für alle Beteiligten, zeigt das benachbarte Heinsberg. Dort hatten die Menschen monatelang das Haus einer Familie belagert, die ihren Verwandten, den bundesweit bekannten Sexualtäter Karl D., nach verbüßter Haft bei sich aufgenommen hatte. Der Ort rebellierte, die Menschen waren außer sich.

Genau das soll es in Aachen nicht geben. „Solche Hysterie wollen wir verhindern. Ob es uns gelingt, wissen wir nicht”, sagt Helmut Etschenberg, der Städteregionsrat (ehemals Landrat), einig mit Aachens Oberbürgermeister Marcel Philipp. Und deshalb treffen sie sich nicht nur an Runden Tischen, sondern auch zu den vom Landeskriminalamt eingeführten Fallkonferenzen. Konferenzen, in denen alle beteiligten Fachleute vom Staatsanwalt über den Bewährungshelfer bis hin zur Polizei über Maßnahmen für jeden Entlassenen beraten.

Anfängliche Skepsis
hat sich gelegt

„Die Maßnahmen können von gelegentlichen Kontrollen über verdeckte Aktionen bis hin zur Rund-um-die-Uhr-Bewachung durch die Polizei reichen”, sagt Aachens Leitender Kriminaldirektor Helmut Wälter. Das bedeute für die Polizei erheblichen Mehraufwand, man sei jedoch gut vorbereitet. „Sollte der Bundesgerichtshof das Urteil des Europäischen Gerichtshof bestätigen, wird wenige Stunden später das Aachener Landgericht die Entscheidung zur Entlassung treffen. Und wir können sofort loslegen”, so Wälter.

Karl Schwers, der stellvertretende Leiter der JVA Aachen, setzt vor allem auf eine intensive Betreuung durch die Bewährungshelfer: „Wenn sich die Entlassenen neben Auflagen wie etwa Alkoholverbot täglich bei ihrer Führungsaufsicht melden müssen, kann die deren Zustand genau beobachten. Ist der Mann nüchtern, pflegt er sich, wirkt er stabil?” erklärt Schwers.

Die anfängliche Skepsis, die bei allen Beteiligten vorherrschte, habe sich durch die intensiven Beratungen gelegt. „Doch die Sorge bleibt. Menschliches Verhalten ist nicht vorhersehbar.“