Winnenden. .
Am heutigen Donnerstag jährt sich der Amoklauf von Winnenden. In der Stadt am Neckar erschoss ein 17-jähriger Schüler vor einem Jahr 15 Menschen und tötete sich selbst. Lehrer, Schüler und Angehörige wollen den Schrecken überwinden. Doch er lastet noch immer schwer auf ihnen.
Gut sieht sie aus in ihrem grauen Hosenanzug, dem limonengelben Top. Ihr Anblick, ihre schon fast routiniert erscheinende Geschäftigkeit könnte täuschen, könnte zu falschen Rückschlüssen verleiten. Schon damals, wenige Wochen nach dem Amoklauf, wirkte sie so unglaublich gefasst. Jetzt kommt sie gerade aus Mainz, vom ZDF, hat ein Interview zum Jahrestag des Amoklaufes gegeben. „Nein“, sagt Gisela Mayer in einem ruhigen Moment zwischendurch, „dies ist nur mein öffentliches Gesicht, das private halte ich für mich. Es ist zu verletzt!“
Winnenden, einen Tag vor dem Jahrestag des Amoklaufes. Seit Wochen haben sie beratschlagt, wie sie diese Gedenkstunden begehen wollen. Lehrer, Eltern, Schüler, ja, die ganze Stadt. Nun beziehen Polizisten in den verschneiten Weinbergen ringsum Posten, werden Straßen gesperrt. Man müht sich um Dezenz, möchte in diesen ohnehin schweren Stunden nicht die Bilder des Vorjahres wachrufen. Keine kreisenden Hubschrauber, keine Einsatzwagen, so wenig Uniformen wie möglich. Denn ein Jahr danach lastet der Amoklauf so schwer auf dieser Stadt, auf ihren Menschen, dass auch Außenstehende sich dem kaum entziehen können.
„Die Kälte darf nicht siegen“
Heute vor einem Jahr, da feierten sie noch gemeinsam Geburtstag, den Geburtstag ihrer jüngsten Tochter Ibi. Gisela Mayer, die Dozentin für Ethik, Ibi eben und deren ältere Schwester Nina. Es war der letzte Tag, den sie zusammen verbringen sollten. Am nächsten Morgen war Nina, die Referendarin der Albertville-Realschule von Winnenden, tot. „Alles war gut in unserem Leben. Wir waren glücklich!“, schreibt Gisela Mayer in ihrem Buch „Die Kälte darf nicht siegen“, das sie vor kurzem veröffentlichte. Ein Buch, das sie als Fortsetzung ihres Gesprächs mit Tochter Nina beschreibt. Eines Gesprächs, das „abrupt und böse unterbrochen wurde“.
Das Verhältnis der beiden, es war ein inniges. Mutter und Tochter, zwei Pädagoginnen, die sich so gerne über diese Gesellschaft, über Fragen der Erziehung, über Schule und die Menschen als solches austauschten. Heute, an Ibis 15. Geburtstag, wird Gisela Mayer keinen einzigen Termin wahrnehmen, nur zu Hause bleiben. Bei ihr, die ihre ältere Schwester verlor und mit dieser auch ihr früheres Leben.
Über 500 Einzelgespräche
„Normalität, das ist ein Begriff, den die Betroffenen des Amoklaufes nicht gerne hören“, sagt der Psychologe Thomas Weber, der in den Containern gegenüber der Albertville-Realschule die psychologische Beratungsstelle leitet. Über 500 Einzelgespräche wurden hier seit dem 11. März 2009 geführt. Noch immer treffen sich die Schüler der drei Klassen, in denen Tim K. damals tötete, einmal die Woche zum Gruppengespräch. Hilfe zur Selbsthilfe ist das. Doch viele von ihnen befinden sich ohnehin in Einzeltherapien.
„Die Schüler sind vor einem Jahr auf eine brutale Art und Weise erwachsen geworden“, sagt Weber. Ihre Art zu trauern sei sehr unterschiedlich. Manche seien für ihre Eltern unerreichbar, andere kröchen mit ihren 15, 16 Jahren plötzlich wieder ins Bett der Eltern. „Es gibt keine richtige und keine falsche Art damit umzugehen“, sagt der Psychologe.
Die Bilder unterdrücken
Auch Astrid Hahn, Leiterin der Albertville-Realschule, könnte man als resolute Frau bezeichnen. Eine Mittfünfzigerin, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist, die es sich damals zumutete, jeden einzelnen Toten anzusehen. „Wir haben uns das alles nicht ausgesucht!“, hat sie einmal gesagt, nun gibt sie sich optimistisch: „Wir sind auf dem Weg zu einer Normalität...“
Wenige Wochen nach dem Amoklauf hatte sie sich erschöpft zu einer Kur zurückgezogen. Ihr Stellvertreter ließ sich vorzeitig pensionieren, eine Lehrerin versetzen und drei weitere sind bis heute nicht in der Lage, ihr Stundensoll zu erfüllen. „Was uns von der Normalität abhält, sind die schrecklichen Ereignisse, die wir erlebt haben, die Bilder, die wir zu unterdrücken versuchen“, sagt Astrid Hahn.
Raum der Stille
Für 5,5 Millionen Euro wird die Albertville-Realschule demnächst umgebaut. Es gibt zusätzliche Klassenräume, ein neues Foyer, die Flure sollen deutlich ihr Aussehen verändern. In den drei Klassenräume, in denen zwölf Menschen starben, Schülerinnen vor allem, wird nicht mehr unterrichtet werden. Einer soll als Raum des Gedenkens eingerichtet werden, mit den Kondulenzbüchern, mit den vielen Briefen, Zeichnungen und Fotos. Unumgänglich erscheint Schulleiterin Hahn auch ein „Raum der Stille“. „Den haben wir bereits jetzt, in den Containern, in denen wir seit dem Amoklauf untergebracht sind. Wir brauchen ihn, um uns zurückzuziehen, um uns wieder zu fassen.“, sagt sie.
Es ist der Tag vor dem Jahrestag. Oberbürgermeister Fritz hat zu einer Pressekonferenz geladen, auch er macht keinen Hehl daraus, dass es ihm nicht gut geht. Astrid Hahn kämpft im Gespräch sichtlich mit den Tränen. Die Angst vor dem nächsten Tag, vor den Gefühlen, die da kommen werden, ist groß. Wie werden sie es ertragen, heute, am Donnerstag, um 9.33 Uhr, zu der Zeit, als Tim K. mit dem Töten begann? „Ich habe noch jede Sekunde dieses 11. März 2009 im Kopf“, sagt die Schulleiterin. Obendrein gibt es die Sorge, Trittbrettfahrer könnten einen neuen Amoklauf androhen.
Antworten, nicht Strafe
Im Herbst wird der Vater von Tim K. in Stuttgart vor Gericht stehen. Angeklagt wegen fahrlässiger Tötung, weil er die Waffen in seinem Haus nicht verschlossen aufbewahrte. Dass er sich in einem Prozess verantworten muss, ist vielen in Winnenden sehr wichtig. „Ich will den Mann sehen, will seine Stimme hören, will Antworten auf meine Fragen“, sagt auch Gisela Mayer. Strafe sei für sie nicht von Bedeutung. Aber sie wolle wissen, wie Eltern es nicht merken, dass ihr Kind sich abschottet, dass es vom Frühstückstisch aufsteht, eine Waffe nimmt und geht.