Bielefeld.

Ein Pensionär muss sich vor dem Bielefelder Landgericht wegen 81-fachen versuchten Mordes verantworten. Er hatte eine Gebetsstunde der Zeugen Jehovas gestürmt. Zum Auftakt des Prozesses bat der 83-Jährige um Entschuldigung.

Mit dem Wissen, dass alles gut ausgegangen ist, könnte man sich vielleicht amüsieren über diese Szene: Kommt ein Mann jenseits der 80 mit Mütze und Maschinenpistole zu einer Gebetsstunde der „Zeugen Jehovas“, weiter aber passiert nichts, weil die Waffe klemmt. Nur war die Sache kein schlechter Scherz. Der Alte soll die Tat geplant haben, weshalb er nun vor Gericht steht wegen versuchten heimtückischen Mordes in 81 Fällen, noch dazu begangen mit einer illegalen Kriegswaffe.

Und Horst A. ist keinesfalls ein gebeugtes altes Männchen. Sehr groß, sehr aufrecht, sehr distinguiert betritt er den Gerichtssaal in Bielefeld, im dunkelgrünen Trachtenanzug mit Hirschhornknöpfen, in der Brusttasche ein dreimal gefaltetes Einstecktuch. Korrekt sieht er aus, und so gibt er sich auch. Der 83-Jährige aus dem westfälischen Halle ist kein Angeklagter, der den Boden betrachtet; er sieht der Vorsitzenden Richterin ins Gesicht, und beantwortet ihre Fragen mit einem strammen „Das ist richtig“.

Mitgefangene nennen in „Kommandoführer“

Der Sohn eines Polizisten war selbst Justizvollzugsbeamter, hat gearbeitet „bis zum letzten Tag“ und danach noch Jahre im Sicherheitsdienst, und als Jahrgang 1926 war er natürlich einst im Krieg: Belgien, Frankreich, dann Ostfront, „da ging es rund“, ein Bombensplitter im Fuß, ein Granatsplitter im Bein. Die Mitgefangenen nennen ihn ihren „Kommandoführer“. Dabei ist er heute Pensionär, zweifacher Vater und Großvater und „seit 62 Jahren verheiratet mit derselben Dame“.

Die Dame sitzt mit Sohn und Schwiegertochter in der ersten Zuschauerreihe, eine winzige weißhaarige Person, die auf dem Schoß nervös ihre Pelzmütze knetet. Flüsternd gibt sie Antworten, die ihr Gatte nicht weiß: Wie alt die Kinder, Sterbejahr der Eltern? „Jetzt fragen sie mich nach Daten“, seufzt Herr A., „das hat alles meine Frau im Kopf.“ Nur darf die nichts sagen, und auch ihr Flüstern verstummt schließlich mit einem verzweifelten „Ach“. Später darf sie kurz zu ihm, als der Saal bereits geräumt ist, er auf der Anklagebank, sie auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Tisches; im Justizkrankenhaus darf sie ihn nie länger als eine halbe Stunde besuchen, und es ist doch 150 Kilometer weit weg!

Man möchte das geradezu sympathisch finden, läge da nicht dieses große unförmige Paket hinter dem Richtertisch: eingewickelt in Packpapier die Maschinenpistole, Typ Skorpion, ein tschechisches Modell mit Schalldämpfer, und ein Samurai-Schwert. Auch das hatte A. bei sich an jenem 30. Juli 2009, dazu drei gefüllte Magazine und ein Messer, als er in den Abendstunden am Königreichssaal der „Zeugen Jehovas“ vorfuhr. Doch noch während er im Vorraum versuchte, die Pistole in Gang zu bringen, wurde er entdeckt: Die Gemeinde floh durch Nebenausgänge, A. wurde an seinem Auto überwältigt.

Selbst sehr erschrocken

In seiner Wohnung fand die Polizei später Notizen, aus denen der Staatsanwalt schließt: Der Senior hatte einen Amoklauf geplant, „weil er sich rächen wollte“. An der Religionsgemeinschaft, deren Glauben er „zutiefst missbilligt“ und der er die jahrzehntelange Entfremdung von seiner Tochter Petra vorwirft, die allerdings gar nicht in Bielefeld wohnt. A. selbst sagt dazu zum Prozessauftakt nichts, wohl aber bittet er die „Zeugen“, die als Nebenkläger auftreten, um Entschuldigung und äußert sein „tiefes Bedauern über das gewaltige Erschrecken, das ich ausgelöst habe“. Er sei damals angesichts der Panik vor Ort „selbst sehr erschrocken“.

Und noch etwas will der alte Herr loswerden: Die Handschellen seien schmerzhaft eng gewesen, die habe wohl „Moses schon mitgebracht, als er über das Rote Meer kam“. Und überhaupt: „Warum wird ein 83-Jähriger gefesselt?“ Warum geht ein 83-Jähriger mit Waffengewalt auf Betende los? Ob er dazu an einem späteren Verhandlungstag mehr sagen wird, hat der Angeklagte noch nicht entschieden. Aber bis hierher: „Danke, dass Sie mich angehört haben.“