Essen. Verbrüht, verhungert, zu Tode geschüttelt: Wenn Kinder die Quälereien ihrer Eltern nicht überleben, ist das Entsetzen groß. Die Jugendämter sind alarmiert. Immer mehr Kinder werden aus ihren Familien geholt. Aber sind die Mitarbeiter vorsichtig - oder handeln sie aus Selbstschutz?
Warum hat niemand bemerkt, dass ein Mädchen jahrelang hinter verschlossenen Türen dahinvegetierte? Warum bekam das Jugendamt nicht mit, wie gefährdet ein Baby war, das mehrfach wegen Knochenbrüchen behandelt werden musste? Gerade die spektakulären Fälle der vergangenen Jahre sind es, die Nachbarn, Lehrer, Erzieherinnen und Verwandte aufgerüttelt haben.
Alarmiert sind auch die Jugendämter. Mit der Folge, dass immer mehr Kinder aus den Familien herausgeholt werden. Vor allem die kleinen, die unter drei Jahren: In dieser Altersgruppe hat sich die Zahl der so genannten Inobhutnahmen von 1996 bis 2007 verdoppelt – von 1264 auf 2539 in ganz Deutschland, besonders rasant war der Anstieg seit 2005. Auch bei den Drei- bis Sechsjährigen: 2005 kamen laut Statistischem Bundesamt 1320 in Obhut, 2007 bereits 1784.
Amt bekommt mehr Meldungen und reagiert früher
„Im Prinzip ist das für die Kinder ein gutes Signal”, sagt Andrea Macher vom Essener Jugendamt. Das Amt bekomme mehr Meldungen von besorgten Nachbarn oder Erzieherinnen und reagiere auch schneller als früher. „Wir besuchen die Kinder meist mit zwei Mitarbeitern zuhause, mitunter auch in der Kita”, sagt die stellvertretende Leiterin der Sozialen Dienste. Überflüssig seien die Besuche selten: „In 85 Prozent der Fälle braucht die Familie tatsächlich Hilfe.” Was bedeutet: Das Jugendamt bietet überforderten Eltern Unterstützung und Beratung an – beim Haushalt, bei der Erziehung, bei der Bewältigung des Alltags eben.
Wie das Essener Jugendamt suchen auch die Behörden anderer Kommunen den Kontakt zu Familien. Sie besuchen frisch gebackene Mütter und Väter, beraten frühzeitig, bieten Hilfen an. Prävention, „und davon kann man nie genug haben”, sagt Markus Fischer, Sprecher des Landesjugendamtes Westfalen-Lippe.
Den Mitarbeitern sitzt die Angst im Nacken
Klar ist aber auch: Nach den spektakulären Kindstötungen, die mit massiven Vorwürfen an die betreffenden Jugendämter einhergingen, sitzt den Mitarbeitern die Angst im Nacken. „Natürlich sind wir sensibler geworden”, gibt auch Andrea Macher zu.
Vielleicht sogar übersensibel, befürchtet der Dortmunder Erziehungswissenschaftler Jens Pothmann von der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik. Er fragt sich, ob wirklich immer Gefahr in Verzug ist, wenn Kinder vorläufig aus den Familien herausgenommen werden. „Dient dieser Schritt immer dem Kindeswohl? Oder handeln Jugendamtsmitarbeiter mitunter aus Selbstschutz mit so drastischen Maßnahmen?”
Immerhin: Die Zahl der Kindstötungen stagniert mit leicht sinkender Tendenz: Derzeit liegt sie bei 4,1 bezogen auf 100 000 Kinder, so die Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik.
Jens Pothmann lobt in diesem Zusammenhang die frühkindliche Bildung in Krippen und Kitas: Gerade Kleinkinder aus schwierigen Familien profitierten von der frühen Betreuung, von der Erziehung außerhalb der eigenen vier Wände. „Das ist ein positiver Nebeneffekt, den die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit sich gebracht hat.”