Gelsenkirchen. Jugendämter nehmen immer mehr Kinder mit dem Verdacht auf Misshandlung und Verwahrlosung aus ihren Familien. „Die Bevölkerung ist sensibler geworden”, sagt Alfons Wissmann, Jugendamtsleiter in Gelsenkirchen.
Immer mehr Kinder werden aus ihren Familien genommen, weil der Verdacht auf Misshandlung besteht – das stellt Alfons Wissmann, Leiter des Jugendamtes Gelsenkirchen fest. „Wir nennen das den Kevin-Effekt: Seitdem das Phänomen Kindesmisshandlung so massiv in der Öffentlichkeit diskutiert wird, werden uns immer mehr Fälle von möglicher Misshandlung von Kindern in Familien gemeldet.”
Kommentar
Die Berichterstattung über den Fall Kevin: In diesem Fall war sie weniger medialer Overkill als erfolgreiche erzieherische Maßnahme.
Schreit ein Kind in der Nachbarwohnung, kommt es mit blauen Flecken, ohne Frühstück in die Schule, werden Nachbarn, Lehrer, Bekannte zunehmend aufmerksam.
Und auch die Jugendämter sind alarmiert. Nicht nur, dass sie Hinweisen aus der Bevölkerung konsequenter nachgehen. Auch haben sie die Notwendigkeit von Vorbeugung erkannt.
In Gelsenkirchen und Oberhausen etwa wird jede Familie mit einem Neugeborenen besucht – auch, um Verwahrlosung entgegenzuwirken.
Eine gute Idee zum Schutz der Kinder, die bundesweit Schule machen sollte.
Selten vergehe ein Tag, so der Jugendamtsleiter, an dem nicht Mitarbeiter des Sozialen Dienstes herausfahren würden, um einem Hinweis nachzugehen. „Neulich hatten wir an einem Freitag acht gemeldete Fälle – alle Kinder mussten wir aus den Familien nehmen.” Nicht ungewöhnlich: Immer mehr Kinder werden vom Jugendamt Gelsenkirchen in Obhut genommen. 2006 waren es 115 Fälle, 2007 schon 178, und im ersten Quartal 2008 sogar 49 – das hieße hochgerechnet auf das gesamte Jahr 196 Kinder und Jugendliche. „Die Bevölkerung ist seit dem Fall Kevin sensibler geworden”, sagt Wissmann. „Wir gehen jedem noch so kleinen Hinweis nach.”
Die steigenden Fallzahlen in Gelsenkirchen sind keine Ausnahme: Die Jugendämter haben 2007 bundesweit jeden Tag durchschnittlich 77 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Wie das Statistische Bundesamt für Datenverarbeitung gestern in Wiesbaden mitteilte, leisteten die Ämter insgesamt für 28 200 Kinder und Jugendliche „erste Hilfe” in für sie bedrohlichen Situationen. Dies waren rund 2200 (8,4 Prozent) mehr als 2006. Dabei wurden 435 Kinder gegen den erklärten Willen der Sorgeberechtigten aus Familien genommen. Ein nahezu explosionsartiger Anstieg, denn im Jahr 2006 waren es gerade mal 151. Auch die Zahlen für NRW sprechen eine deutliche Sprache: Hier hat sich die Zahl der Herausnahmen mehr als vervierfacht.
Bei der Inobhutnahme greifen Jugendämter kurzfristig ein, wenn Kinder und Jugendliche sich in einer akuten, sie gefährdenden Situation befinden. Jugendämter nehmen Minderjährige aus ihrer Familie und bringen sie meist für Stunden oder einige Tage etwa in einem Heim unter. Der mit Abstand meistgenannte Anlass für das Eingreifen der Jugendämter war mit 44 Prozent die Überforderung der Eltern. Bei 6500 der Kinder und Jugendlichen (23 Prozent) waren Vernachlässigung bzw. Anzeichen für Misshandlung oder für sexuellen Missbrauch festgestellt worden.
Diesen Trend bestätigt auch Alfons Wissmann. „Es ist oft nicht mal böser Wille. Die Eltern können mit der Situation nicht umgehen.” Und: „Wir hatten schon Fälle, da haben Eltern uns Kinder einfach hier auf den Tisch gesetzt und gesagt ,Ich kann nicht mehr!' – In dem Fall hätten die Kinder fast noch Glück, sagt Wissmann. „Schlimmer ist, wenn die Eltern die Kinder verwahrlosen lassen, und niemand etwas davon erfährt.”