Essen. Babys in völlig verdreckten Kleidern, unterernährte Kinder, heillos überforderte Eltern. Für Kinderärzte sind diese Bilder eher Alltag als Ausnahme. Jetzt ist in NRW ein Meldesystem an den Start gegangen, das rund 900 000 Kinder vor Verwahrlosung schützen soll.

Die Meldepflicht für Kinderärzte wird in einem Drittel der Kommunen in Nordrhein-Westfalen schon umgesetzt. Die restlichen Kreise und Städte sollen in den nächsten Monaten folgen.

Die Ärzte melden alle Kinder, die an einer Vorsorgeuntersuchung teilgenommen haben, der „Zentralen Stelle gesunde Kindheit“. Diese Daten werden dann mit den Melderegistern abgeglichen. Bringen Eltern ihre Kinder nicht zur Früherkennung, bekommen sie eine Erinnerung.

„Wenn die Kinder dann trotzdem nicht zur Vorsorge zum Arzt gebracht werden, muss das Jugendamt eine Gefährdungsanalyse vornehmen“, erklärt Barbara Löcherbach, Sprecherin des NRW-Familienministeriums. Die Mitarbeiter entscheiden nach eigenem Ermessen über das weitere Vorgehen.

Kindeswohl vor Elternwohl

Für die Behörden ist das in NRW neu eingeführte Meldesystem ein wichtiger Baustein im Kampf gegen die Verwahrlosung von Kindern. Dr. Thomas Fischbach vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein weiß, dass dieser Schritt nicht unumstritten war. „Es gab einige Auseinandersetzungen, weil durch die Meldepflicht die Elternfreiheit beeinträchtigt würde. Aber letztendlich geht das Wohl der Kinder vor.“

Wie groß das Problem ist, weiß der Kinder- und Jugendarzt aus Solingen aus seinem Praxisalltag. „Wir sehen mehrmals in der Woche Fälle von Verwahrlosung“, stellt er fest. Das reicht von verfaulten Zähnen über dreckige Bekleidung bis hin zur emotionalen Vernachlässigung. „Es gibt auch Eltern, die kümmern sich zwar um das Kind, nehmen aber gar keinen Kontakt zu ihm auf, schauen es nicht an“, erzählt er. „Da sehen wir dann Erziehungsinkompetenz. Diese Eltern brauchen Hilfe.“

Die Meldepflicht soll aber auch die Bedeutung der Vorsorgeuntersuchungen unterstreichen. Bei der Früherkennung können Defizite in der Entwicklung sowie gesundheitliche und psychische Störungen erkannt werden. Allerdings nehmen nach Angaben des NRW-Gesundheitsministeriums nur rund 75 Prozent aller Kinder lückenlos bis zur Grundschulzeit an allen Untersuchungen teil.

Tücken der Technik

Eigentlich sollte das Meldesystem für Nordrhein-Westfalen Anfang 2009 schon komplett einsatzbereit sein, aber die Tücken der Technik haben die Arbeit behindert. „Der Datenpool ist noch nicht komplett. Das liegt unter anderem daran, dass die Meldebehörden ihre Daten mit unterschiedlicher Software pflegen. Um nun alle Namen zusammenzutragen, müssen wir noch die nötigen Schnittstellen einrichten“, erklärt Mirko Kösterke, Sprecher des Landesinstituts für Gesundheit und Arbeit NRW (LIGA). Die Daten von rund 900 000 Kindern müssen dafür gesammelt werden.

Momentan liegen die Datensätze von etwa einem Drittel der Kreise und Städte vor. „Die Ärzte bekommen dann von uns ein Starterkit und können direkt anfangen“, so Kösterke. „Die Meldebereitschaft der Mediziner ist durchweg positiv.“ Insgesamt nehmen in NRW rund 10 700 Ärzte teil.

Zurzeit sammelt die „Zentrale Stelle gesunde Kindheit“ die Benachrichtigungen der Ärzte. Eltern werden noch nicht angeschrieben, weil die Fehlerquote zu hoch wäre. Schließlich fahren viele Familien auch zu Praxen außerhalb ihrer Stadt oder ihres Kreises. „Damit beginnen wir erst, wenn wir in NRW alle Daten komplett haben“, sagt der LIGA-Sprecher. Spätestens Ende März soll es soweit sein. Dann werden auch die Jugendämter eingebunden.

Eine Evaluation will das Landesinstitut für Gesundheit und Arbeit dann nach einem Jahr vornehmen.

Ein wichtiger Schritt

Nach Ansicht von Dr. Fischbach vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein ist die Meldepflicht ein wichtiger Baustein im Kampf gegen die Vernachlässigung von Kindern. „Aber man darf nicht erwarten, dass man damit Missbrauch und Misshandlung verhindern kann“, betont er. „Eltern werden ihre Kinder kaum mit offensichtlichen Spuren der Gewalt zu uns bringen.“

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