Essen. Was passiert gerade im Ruhrgebiet? Die SPD stürzt ab, die AfD liegt in manchen Stadtteilen ganz vorne, aber das ist längst nicht alles.
Was ist bei der Europawahl im Ruhrgebiet passiert? Zunächst: Das Interesse ist gewachsen. 60,2 Prozent der rund 3,67 Millionen Wahlberechtigten haben am Sonntag oder vorab per Briefwahl ihr Kreuz gemacht. Das sind rund 2,2 Millionen Menschen, wie die Wahlanalyse des Regionalverbands Ruhrgebiet (RVR) zeigt. 2019 waren es 58 Prozent, 2014 gar nur 48,7 Prozent. In Mülheim gingen die meisten wählen (65,4 Prozent), in Gelsenkirchen die wenigsten (52,3 Prozent). Dass mehr Menschen gewählt haben, loben die Parteien brav und unisono. Dann aber hört es schon auf mit den Gemeinsamkeiten.
Der SPD bleibt nur noch Herne
Wo lässt sich die Krise der SPD besser ablesen als im Ruhrgebiet, das sie einst so sicher im Griff hatte? Es mag lediglich die Europawahl sein, keine Bundestags- oder Landtagswahl. Aber angesichts insgesamt höllischer Umfragewerte für die Partei: Ist das ein Trost? Nur in einer Stadt überhaupt liegen die Sozialdemokraten noch auf Platz eins: in Herne. Für Herner Verhältnisse glänzen sie da auch nicht gerade, aber immerhin liegen sie mit 23,9 Prozent hauchdünn vor der CDU (23,7 Prozent).
Besonders bitter für die Sozialdemokraten: In den Stahl- und einstigen Kohlestädten Duisburg, Gelsenkirchen, Bottrop und Oberhausen hat die CDU die SPD auf dem Spitzenplatz abgelöst. Die Partei, die sich kümmert? So wird sie auch im Revier offensichtlich nicht mehr wahrgenommen.
Dortmund nannte Herbert Wehner einst die Herzkammer der SPD - aber das Herz schlägt nur noch schwach: Selbst dort ist sie von der CDU überholt worden. Platz zwei ist bei Europawahlen in Dortmund für die SPD allerdings nicht neu: 2019 rauschten die Grünen an ihnen vorbei - bevor sie nun steil abstürzten.
Der Düsseldorfer Politologe Stefan Marschall ist sicher, dass die SPD ihren Bezug zur Wählerschaft teilweise verloren hat. „Vielleicht auch deswegen, weil es unklar ist, wer jetzt für die SPD in NRW eigentlich steht.“ Der Partei sei es nicht gelungen, dieses Problem durch personelle Neuaufstellungen zu beheben. „Die SPD müsste sich personell neu erfinden.“ Hat sie allerdings gerade erst getan - nach der Landtagswahl 2022.
Die AfD trumpft in vielen Stadtteilen auf
Natürlich trumpft die AfD besonders im Osten Deutschlands auf. Wer in bestimmte Ruhrgebietsstädte blickt, dem muss indes längst auffallen, dass die Rechtsextremen auch hier immer stärker punkten. Es sind Städte und Stadtteile, in denen häufig die Schattenseiten der Migration deutlich werden. In Gelsenkirchen erzielte die AfD mit 21,7 Prozent ihr bestes Revier-Ergebnis. Dort fehlten ihr nur knapp 1600 Stimmen, um ganz vorne zu landen. Die SPD hat sie schon hinter sich gelassen. Elf von 34 Kommunalwahlbezirken gewann die AfD gar, in Scholven kratzte sie an der 30-Prozent-Marke.
In Duisburg holte sie sieben Bezirke, in Neumühl, wo viele Deutsch-Russen leben, landete sie sogar bei über 30 Prozent. Auch im Bottroper Süden räumten die Rechtsextremen ab. Die AfD hat sich, so Marschall, inzwischen im Ruhrgebiet, aber auch in ländlichen Regionen verwurzelt. Sie geriere sich im Revier als Partei für die Arbeiterinnen und Arbeiter, also der eigentlich klassischen SPD-Klientel. In Bochum indes verfängt die Erzählung der AfD nicht so gut: Mit 11,9 Prozent holte sie prozentual so wenige Stimmen wie sonst nirgendwo im Ruhrgebiet.
Der CDU geht‘s gut, den Grünen nicht
In Herne hat es noch nicht ganz gereicht, ansonsten aber ist das Revier in der Parteienfarblehre schwarz wie die Nacht. Das höchste Ergebnis im Einzugsgebiet des Regionalverbands Ruhr erzielt die CDU mit 31,2 Prozent im Kreis Wesel, das niedrigste mit 22,8 Prozent in Duisburg. In der schwarz-grünen Landesregierung, so Politologe Marschall, seien die hohen Verluste des Grünen-Koalitionspartners zwar eine „schwierige Konstellation“. Die Grünen hätten mit ihren Verlusten um zehn Prozentpunkte eine „Klatsche“ erlitten. Er glaube aber nicht, dass das zu Spannungen auf Landesebene führen werde. In Bochum schafften die Grünen immerhin noch 15,6 Prozent, in Gelsenkirchen waren es gerade noch 7,7. Die Grünen klammern sich ans Rheinland: In Köln sind sie immer noch stärkste Partei, und Düsseldorf liegen sie knapp unter 20 Prozent.
Die sogenannten Sonstigen
Bei einer Europawahl gibt es keine Fünf-Prozent-Hürde - ein Prozent genügt. Das trichtern Klein- und Kleinstparteien ihrer potenziellen Klientel offenbar auch im Ruhrgebiet mit Erfolg ein. Ob Volt, Tierschutzpartei, Die Partei oder PdF: Die sogenannten „Sonstigen“ bringen es zum Beispiel in Dortmund zusammen auf immerhin 18 Prozent, in Duisburg gar auf 27,6 Prozent. Der Ordnung halber: Die Linken werden mittlerweile auch in diese Gruppierung einsortiert. Bei Bundestag- oder Landtagswahlen bleiben „Sonstige“ in der Summe eher einstellig in den Prozenten.
Die DAVA feiert kleine Erfolge
Eingereiht hat sich dort auch die „Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch“, kurz DAVA, eine umstrittene Gruppierung, die der türkischen AKP nahesteht. Die Gründung der DAVA sei ein weiterer Versuch Erdoğans, seine politische Agenda durch einen „Propagandalautsprecher“ im Europaparlament zu vertreten, ätzt ein türkischer Kritiker.
„In Duisburg erzielt türkisch-islamistische Partei Dava über 40 Prozent der Stimmen“, kann man in der gerne alarmistischen Schweizer „Weltwoche“ online lesen. Nun, es sind 2,5 Prozent der Stimmen. Aber tatsächlich punktet die DAVA - nicht ganz überraschend - zum Beispiel in Duisburg-Marxloh bei geringer Wahlbeteiligung mit etwas mehr als 17 Prozent. Es sind, nur zur Einordnung, in absoluten Zahlen 221 Stimmen. Und tatsächlich gab es ein Wahllokal in Duisburg-Bruckhausen, wo es mehr als 40 Prozent der abgegebenen Stimmen waren. Wie es weitergeht? Die DAVA will auch bei der Bundestagswahl 2025 antreten. Nicht nur die „Weltwoche“ wird es mit Interesse verfolgen.