Essen. SPD, Grüne und FDP werden abgestraft, Union und AfD profitieren. Die Folgen für die Koalition in Berlin sind noch nicht absehbar.
Bei Kommunal- und Landtagswahlen spielen in der Regel lokale oder regionale Themen und Persönlichkeiten eine zentrale Rolle für die Stimmabgabe. Europawahlen hingegen sind der entscheidende Stimmungstest für die jeweiligen Regierungen. Denn die Wählerinnen und Wähler haben vor allem bundespolitische Themen im Kopf, wenn sie ihr Kreuz machen.
Vor dem Hintergrund ist das aktuelle Wahlergebnis aus Sicht der Berliner Ampelkoalition ein existenzgefährdendes Desaster. Bisher wurde SPD, Grünen und Liberalen vor allem in Meinungsumfragen der Spiegel vorgehalten, jetzt aber können es die Koalitionäre in allen Grafiken und Diagrammen des Tages nachlesen: Das Vertrauen der Menschen in die Bundesregierung ist auf ein Minimum geschrumpft.
Kanzler Scholz ohne positive Wirkung
Die einst so stolze SPD dümpelt mittlerweile im 15-Prozent-Bereich und darunter herum. Auch das Signal an Olaf Scholz ist eindeutig: Gemeinsam mit Spitzenkandidatin Katharina Barley war er das Gesicht des SPD-Wahlkampfs, der Kanzler sollte und wollte es richten. Daraus wurde nichts. Scholz erreicht die Menschen derzeit nicht – und es deutet einiges darauf hin, dass sich daran bis zur nächsten Bundestagswahl nichts ändern wird.
Auch Grüne und Liberale lecken ihre Wunden. Groß war der Jubel bei den Grünen, als sie bei der Europawahl vor fünf Jahren um zehn Prozentpunkte auf mehr als 20 Prozent zulegten. Die Bundestagswahl 2021 bestätigte den Aufwärtstrend, nichts schien die Partei aufhalten zu können. Doch dann kam nach der Aufbruchstimmung der ersten Koalitionswochen die harte Realpolitik in einem Dreier-Ampelbündnis, das bis zum heutigen Tag nicht zusammenpasst und nur durch die Angst zusammengehalten wird, nach einem Bruch vollends unterzugehen. Die Fünf-Prozent-Hürde gibt es bei der Europawahl bekanntlich nicht, aber sie ist für die FDP trotzdem zum Maßstab geworden.
Der Ampelstreit nervt die Menschen
Den Liberalen gelingt es weiterhin nicht, überzeugend darzulegen, warum man sie wählen sollte. Und, das betrifft alle drei Ampelparteien, die Menschen sind das Gezänk und Gezeter, die Eitelkeiten und Tricksereien, die Vielstimmigkeit und den Zickzack-Kurs der Regierungskoalition leid. Das gilt vor allem für die Migrationspolitik, in der es keine Linie gibt. Aber auch in der Wirtschafts- und Unternehmenspolitik, im Sozialen (Bürgergeld) oder bei der Zukunft der Bundeswehr wird die Koalition ihrer Verantwortung nicht gerecht. Davon profitieren die Union, die AfD und die neue Partei von Sahra Wagenknecht.
Allen Unkenrufen zum Trotz geht die Rechnung von CDU-Chef Friedrich Merz aktuell auf. Er positioniert die Union in allen wichtigen Politikfeldern als konservative Kraft und echte Alternative zur Ampel. Beim Thema Migration scheint er Ängste ernster zu nehmen, auch die Unternehmen vertrauen ihm und der Union mehr, als dies in der Endphase der Ära Merkel der Fall war. Außerdem „versteckte“ die CDU in ihrem Wahlkampf ihre Spitzenfrau Ursula von der Leyen, ihres Zeichens immerhin Kommissionspräsidentin. Auch hier scheint die Union den richtigen Riecher gehabt zu haben – was nicht für Frau von der Leyen spricht.
AfD stärker als die einst so stolze SPD
Schwer nachvollziehbar bleibt das gute 16-Prozent-Ergebnis der AfD. Eine Partei voller Skandale, mit einer schmuddeligen Nähe zu den Kriegstreibern in Russland, mit Nazis in ihren Reihen und dem prolligen Spitzenkandidaten Krah, den sogar die eigene Partei für schädlich erachtet und aus dem Verkehr zieht, erreicht ein besseres Ergebnis als zum Beispiel die Sozialdemokraten. Nun mag man sagen, es hätte noch besser für die AfD und somit schlimmer für dieses Land kommen können. Aber eine gewisse Sorge bleibt – gerade mit Blick auf die große Zustimmung in den ostdeutschen Bundesländern.