Essen. Die Debatten um Abschiebung und Messerverbote gehen am Thema vorbei. Welche Lehren wollen wir aus dem Terroranschlag ziehen?

Wir waren fast in Echtzeit dabei, als der Täter in Mannheim zustach. Seitdem kreist dieser schreckliche Moment als Bild oder Video und brennt sich ein ins digitale Gedächtnis. Wir sind geschockt, fühlen mit den Opfern und ihren Angehörigen, wir empören uns – all das sind zutiefst menschliche Reaktionen. Sie fallen, auch das ist menschlich, umso stärker aus, je mehr wir uns persönlich bedroht fühlen.

Und das erreichen die Bilder aus Mannheim. Oft wollen Terroristen gezielt solche Bilder erzeugen, die mediale Wirkung wird immer begrüßt. Terror soll genau so wirken. Und auch die reflexhaften Debatten, die nun zwangsläufig folgen, sind genauso gewollt.

Terroristen begehen ihre Verbrechen nicht nur aus Hass, sie wollen immer auch spalten: Sie wollen die Menschen auf eine Seite treiben. Auf welche ist egal, es genügt den Dschihadisten, wenn eine kleine Minderheit sich ihnen anschließt. Und je undifferenzierter, je gröber die Gegenseite – wir – reagiert, desto besser aus Sicht der Terroristen. Denn das treibt ihnen bislang Unentschlossene zu. Schwarz-Weiß-Denken hilft den Radikalen.

Auf das Attentat folgt der Reflex. Zuverlässig diskutieren wir nun über Abschiebung und Messerverbote, auch wenn das politische Personal weiß, dass auch schärfere Regeln kein Attentat verhindern können. Geschehen werden, wenn überhaupt, nur Anpassungen am Thema vorbei.

Wie können wir lernen, besser mit dem Risiko zu leben?

In all dieser Emotion nun mit Statistik daherzukommen, wirkt vielleicht kühl. Aber man muss eben den Spagat versuchen: mit den Opfern fühlen und zugleich gedanklichen Abstand wahren. Die Einordnung soll das Thema nicht verharmlosen. Sie soll dem persönlichen Sicherheitsgefühl guttun. Denn Terroranschläge und Amokläufe sind zwar medial um ein Vielfaches präsenter als früher. Aber sie bleiben eine seltene Ausnahme. Sogar seltener als früher.

  • Von den 70ern bis Mitte der 90er-Jahre lag die Zahl aller getöteten Terroropfer in Westeuropa deutlich höher als heute. Einzelne schwere Anschläge wie in Madrid, in Norwegen, Paris oder Nizza ragen seitdem heraus. Trotzdem blieben die Opferzahlen stets unter 200 und in den meisten Jahren unter 50. Zum Vergleich: 1980, dem Jahr des rechtsextremen Oktoberfestattentats, gab es in Westeuropa mehr als 400 Terrortote.
  • Im Jahr 2023 trauerte Europa um 27 Opfer, davon 17 in der Türkei.
  • Betrachtet man nur die Taten religiös motivierter Terroristen in Deutschland, dann zählt der Verfassungsschutz in den acht Jahren seit 2016 insgesamt 18 ermordete Menschen. Der 29-jährige Mannheimer Polizist Rouven L. wäre das neunzehnte Opfer, die Ermittler gehen derzeit von einem islamistischen Motiv aus. Dreizehn der Opfer starben bei dem Attentat auf dem Berliner Weihnachtsmarkt, es gab hier außerdem 60 Verletzte. Nicht berücksichtigt sind Angriffe von psychisch gestörten oder kriminellen Tätern wie der im Regionalzug Kiel-Hamburg 2023, in dessen Folge drei Menschen starben.
  • Gemessen an seiner Bevölkerungsgröße ist Deutschland unterdurchschnittlich von Terror betroffen. Hier gab es 34 Festnahmen von Verdächtigen im Jahr 2021, ungefähr so viele wie in Belgien. In Frankreich waren es viermal so viele.

Das persönliche Risiko, Opfer einer Terrortat zu werden, ist sehr, sehr gering. Aber es bleibt ein Rest, mit dem wir umgehen müssen. Das gelingt uns in anderen Bereichen souveräner: mit den Restrisiken im Verkehr, durch Umweltbelastungen oder Naturkatastrophen. Wir sollten auch beim Thema Terrorismus kühl bleiben. Das hindert uns nicht, mit den Opfern zu fühlen, aber es führt vielleicht zu besseren Lösungen, um künftige Opfer zu vermeiden. Reflexhafte Debatten tun es eher nicht.

Wollen wir ein generelles Messerverbot?

Ein zugriffsbereites Mitführen von Messern sollte daher an solchen problematischen Orten (Anm.: wie Zügen oder Bahnhöfen) generell verboten werden, auch um der Polizei die Möglichkeit zu geben, präventiv einzuschreiten.
Andrea Lindholz - stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag

Hätte der Täter von Mannheim sich um ein Messerverbot geschert? – Es wäre absurd, das anzunehmen. Zumal der Mannheimer Marktplatz, wo er am Freitag bei einer islamkritischen Kundgebung zustach, ausgerechnet in einer Waffenverbotszone liegt. Allerdings gilt diese nur zu bestimmten Zeiten an bestimmten Tagen. Am Freitagabend um 20 Uhr wäre sie in wieder Kraft getreten, ein paar Stunden nach dem Anschlag.

Terrorangriffe, Amokläufe und Morde sind geplant. Und kein Täter ist dabei aufs Messer angewiesen. Ein Auto zum Beispiel war leider schon oft Tatwaffe. Selbst die Polizeigewerkschaft winkt ab: Ein schärferes Messerverbot würde nichts beitragen zur Terrorbekämpfung. Dennoch lohnt die Diskussion. Es sollte nur klar sein, dass es nicht um Terror geht. Waffenverbote sollen die Kriminalität im Alltag bekämpfen.

Die meisten Gewalttaten mit Messern geschehen, wenn Konflikte eskalieren. Messer werden mehr oder weniger spontan eingesetzt, oft von Jugendlichen. Es würde also helfen, wenn weniger Menschen Messer mit sich führen würden. Damit die Polizei auch mal anlasslos kontrollieren kann (und nicht jede Kleinigkeit aufwändig dokumentieren muss), gibt es das Instrument der Waffenverbotszone. Momentan können solche Zonen aber nur dort eingerichtet werden, wo schon viel passiert ist – und die Prognose muss düster ausfallen. Der Begriff Zone ist vielleicht irreführend. Es handelt sich (fast immer) um Kontrollaktionen, die auf wenige Tage befristet sind.

Waffenverbotszonen sind auch politisch umstritten. Es wird oft ins Feld geführt, dass mehr anlasslose Kontrollen zu Diskriminierung führen könnten. Und wenn jeder einfach so durchsucht werden kann – ist das nicht ein Verlust bürgerlicher Freiheit? Auch viele Polizisten glauben, dass der Arbeitsaufwand für so viel mehr Kontrollen in keinem guten Verhältnis zum Ergebnis stehe.

Eine gute und eine schlechte Nachricht

So sind denn auch nur drei Waffenverbotszonen in NRW dauerhaft eingerichtet: die Düsseldorfer Altstadt, die Kölner Ringe und die Zülpicher Straße, ebenfalls in Köln. Alle weiteren Verbotszonen sind befristet auf wenige Tage, zum Beispiel an Hauptbahnhöfen. Die Stadt Essen etwa versucht aktuell, Waffenverbotszonen anzustoßen an „bekannten Treffpunkten“ – wohl wissend, dass die Polizei keinen Ort als geeignet einstuft. Das ist eigentlich eine gute Nachricht.

Die schlechte ist: Angriffe mit Messern haben stark zugenommen, um knapp die Hälfte in 2023. Auch gegenüber 2019, dem ersten Jahr der gesonderten Auswertungen zu Stichwaffendelikten, bedeutet die neue Zahl von rund 6200 Fällen einen Höchststand (plus 7 Prozent). Das ist natürlich ein Problem, wenn auch der Blick auf die langen Linien geeignet ist, etwas Ruhe in diese aufgeregte Diskussion zu bringen – und wiederum das persönliche Sicherheitsempfinden zu verbessern. 2023 gab es rund 1800 Morde und Totschlagdelikte in Deutschland. Im Jahr 1993 waren es aber etwa 4500. Die Neunziger- und Nullerjahre waren durchgehend viel gewalttätiger als heute.

Brauchen wir also mehr Waffenverbotszonen? Zumindest sollte man das Instrument flexibler gestalten, damit es einfacher eingesetzt werden kann. Es ist richtig, dass Messer nicht auf die Straße gehören. Aber dass der reale Effekt sich in Grenzen halten wird, klingt selbst in den Forderungen der Befürworter durch. Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags: „Waffenverbotszonen sind eine Möglichkeit, ein klares Zeichen gegen Gewalt zu setzen und das Sicherheitsgefühl in der Stadt zu erhöhen.“

Brauchen wir härtere Abschieberegeln?

Für mich ist klar, dass Personen, die eine potenzielle Gefahr für die Sicherheit Deutschlands sind, schnell abgeschoben werden müssen.
Nancy Faeser - Bundesinnenministerin (SPD)

„Sicherheit geht vor Bleiberecht“, sagt Herbert Reul (CDU), Innenminister von NRW, und stößt damit ins selbe Horn wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) oder seine Amtskollegen in Hamburg, Bayern und Brandenburg. Reul fügt aber hinzu, dass die Glaubwürdigkeit von Politikern leide, wenn „wir alle dicke Sprüche machen“. Er relativiert: „Die Abschiebungsdebatte ist notwendig, aber sie löst nicht die Probleme. Die eigentliche Frage kann man nur lösen, indem man den Zugang von Menschen begrenzt.“ Offenbar hat auch Reul erkannt, dass hier zwei Debatten durcheinander gehen. Und dass eine davon, die Abschiebeforderung, nicht sehr zielführend ist.

Wäre Afghanistan ein sicheres Herkunftsland, hätte dies den Anschlag von Mannheim verhindert?

Nein, es hätte keinen Grund für eine Abschiebung gegeben. Denn der Täter ist vor dem Attentat nie als Gefährder oder Extremist aufgefallen, ist mit einer Deutschen verheiratet und hat deutsche Kinder. Ein Strafprozess muss nun selbstverständlich in Deutschland stattfinden – schon um den Opfern diese Chance der Aufarbeitung zu geben. Und danach? Dies soll kein prinzipielles Plädoyer für oder gegen Abschiebung sein. Nur, pragmatisch gefragt: Will man einen islamistischen Terroristen ausgerechnet an ein islamistisches Terrorregime wie das der Taliban übergeben, das zudem mit der noch radikaleren Terrororganisation Islamischer Staat im Dauerkonflikt liegt?

Herbert Reul (CDU), Innenminister von NRW: „Die Glaubwürdigkeit von Politikern leidet, wenn wir alle dicke Sprüche machen.“
Herbert Reul (CDU), Innenminister von NRW: „Die Glaubwürdigkeit von Politikern leidet, wenn wir alle dicke Sprüche machen.“ © DPA Images | Thomas Banneyer

Theoretisch ist dies bereits mit den geltenden Regeln möglich. Auch der Irak ist kein sicheres Herkunftsland, es gibt aber einzelne Abschiebungen dorthin. Sie kosten nur viele Ressourcen, weil in jedem Einzelfall viele diplomatische und rechtliche Fragen geklärt werden müssen. Bei praktisch jeder Abschiebung müssen die Behörden die Gerichte davon überzeugen, dass dem Betroffenen keine Folter oder Verfolgung droht, dass nicht Krieg oder Hunger sein Leben bedrohen. Das dürfte im Fall von Afghanistan äußerst schwierig sein, ist aber vielleicht nicht unmöglich.

Auch umgekehrt hätte es wenige praktische Auswirkungen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu dem Schluss käme, dass Afghanistan sicher ist. Dadurch verkürzen sich Bearbeitung- und Klagefristen – aber auch für sichere Länder muss jeder Einzelfall geprüft werden. Eine weitere kleine Beschleunigung ergibt sich, weil die Lage im Land nicht mehr jedes Mal beschrieben werden muss. Kurz: Der Aufwand ändert sich durch eine andere Einstufung, nicht die grundsätzliche Möglichkeit einer Abschiebung. Für den Einzelfall Mannheim ist es schlicht egal.

Oft wollen die Herkunftsländer nicht

Abschiebungen scheitern aber oft auch an praktischen und diplomatischen Fragen. Der Attentäter von Berlin, Anis Amri, sollte tatsächlich 2016 abgeschoben werden, kurz bevor er den schwersten islamistischen Anschlag auf deutschem Boden verübte. Doch er hatte seine Papiere vernichtet. Was es der tunesischen Regierung ermöglichte, die Aufnahme des schon vielfach aufgefallenen Straftäters zu verweigern. Hinzu kommt, dass die Früherkennung schwierig ist. Viele Attentäter radikalisieren sich still vor ihrem Bildschirm. Auch der Syrer Maan D., der 2023 in der Duisburger Altstadt und einem Fitnessstudio zustach, einen Menschen tötete und vier Verletzte, war zuvor nicht aufgefallen.

Die zweite Debatte entzündet sich an der Frage: Wären weniger Anschläge geschehen, hätte Deutschland nicht 2015 seine Grenzen geöffnet? Schwer zu sagen. Der Attentäter von Mannheim lebt schon seit 2013 hier. Der tunesische Attentäter von Berlin kam zwar 2015 nach Deutschland, hatte davor aber schon einige Jahre in Italien gelebt. Mit krimineller Energie täuschte Anis Amri die deutschen Behörden, indem er sich an mehreren Orten anmeldete – und diese ließen sich täuschen. Auch der Palästinenser, der 2017 in Hamburg einen Mann erstach und fünf Menschen teils schwer verletzte, kam 2015 ins Land, nachdem sein Asylgesuch in Spanien und Norwegen abgelehnt wurde. Das wurde es dann auch in Deutschland – zu spät.

Über die Frage, wie Deutschland und Europa ihre Grenzpolitik gestalten, ist seit 2015 intensiv gerungen worden. Der Anschlag von Mannheim ist ein neuer Anlass zu Diskussionen. Diese muss die Politik immer wieder aufs Neue führen – allerdings vor allem auf Ebene der EU. Es wäre wünschenswert, wenn sie sich nicht von den Emotionen treiben ließe, die der Terrorakt provoziert.

Was würde tatsächlich helfen?

Dies alles soll keine Rede für das Nichtstun sein. Es gibt allerdings effektivere Maßnahmen als die eher symbolhaften Vorschläge zu Messerverbotszonen und Abschiebungen, die zudem zu Pauschalisierungen in der Debatte führen.

Schon die parlamentarische Aufbereitung nach dem Berliner Anschlag 2016 hat die Defizite benannt. Sie sind längst nicht alle beseitigt: Anis Amri hat das Kompetenzwirrwarr zwischen verschiedenen Behörden und Städten ausgenutzt. Auch wenn Asylbewerber zum Beispiel längst Fingerabdrücke geben müssen, die im Ausländerzentralregister gespeichert werden, besteht viele Probleme des Föderalismus fort.

Im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum arbeiten rund 40 Behörden zusammen, vom Bundesnachrichtendienst über das Bundeskriminalamt, das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Zollkriminalamt, den Militärischer Abschirmdienst bis zu den Landeskriminalämtern. Aber es gebe weiterhin keine Standards des verlässlichen Datenaustausches, dafür fehlten die rechtlichen Grundlagen, bemängelte eine Doktorarbeit an der Ruhr-Uni-Bochum 2022. Demnach ist auch nicht klar geregelt, welche Arbeitsschritte welche Behörde bei welchem Gefährdungspotenzial einzuleiten hat. Genau das führte im Fall Amri dazu, dass er seine Überwachung bemerkte.

In der Regel koordiniert das Bundeskriminalamt nur die Arbeit der Landeskriminalämter. Wäre es nicht einfacher, wenn es in länderübergreifenden Fällen weisungsbefugt wäre? Polizei und Nachrichtendienste arbeiten streng getrennt, was auch den Datenaustausch betrifft. Über die Ausgestaltung dieses „Trennungsgebots“ sollte man diskutieren. Und ist es noch zeitgemäß, dass der Bundesnachrichtendienst für das Ausland und der Verfassungsschutz fürs Inland zuständig ist? Der Personalmangel bei Polizei und Co. ist ohnehin ein Dauerthema.

Die Liste der wünschenswerten Dinge ist lang. Mehr Aufklärung gegen Islamismus. Mehr Sozialarbeit an Schulen. Mehr Therapieplätze für von Krieg und Flucht traumatisierte Flüchtlinge. In der derzeitigen Stimmung zwischen Trauer und Wut ist es schwierig, darüber zu diskutieren. Dabei würden genau diese Maßnahmen helfen, das Risiko für künftige Anschläge und Amoktaten zu verringern (und sie würden auch andere gesellschaftliche Folgekosten senken). Denn zur Realität gehört: Es wird wieder passieren. Sich darauf einzustellen, bedeutet nicht, die Opfer zu vergessen. Im Gegenteil.