Recklinghausen. Chris Fürstenberg sollte nach dem Recklinghäuser Zugunglück den Lokführer betreuen – und fand die Opfer. „Mein schlimmster Einsatz.“

Beim Roten Kreuz in Recklinghausen hatten sie gerade Schichtwechsel an jenem Abend, Chris Fürstenberg kannte den Einsatz noch nicht: „Ein Notfall mit einem Zug.“ Der Notfallsanitäter wusste nicht, was genau passiert war, und nicht, „wer schon alles da war“. Dass sie schon eine Weile suchten hinter einem Bahnübergang, weil ein Lokführer gemeldet hatte, dass da plötzlich Personen waren vor seinem Zug; er habe sie angefahren, Jugendliche vielleicht oder Kinder? Chris Fürstenberg wurde zu ihm geschickt, der Mann stand vermutlich unter Schock. Aber dann fand er gemeinsam mit seiner Kollegin den Jungen. „Ein Zufall“, sagt er. Und dass er nicht glaubte, keinen Moment, „dass Amir das überleben würde“.

Die alten Autoreifen liegen immer noch am Zaun des Grundstücks Am Ostbahnhof, wilde Dornenbüsche haben sie überwuchert. Es ist nicht viel zu sehen von den Gleisen, aber Chris Fürstenberg hat alles noch vor Augen: Dort rechts stand die Lok, Fahrtrichtung dorthin, wo der 28-Jährige jetzt steht. Dunkel war es am 2. Februar des vergangenen Jahres, „stockfinster, kalt und nebelig“. Der Notfallsanitäter und seine Kollegin kletterten über das Gitter, mitsamt der schweren Ausrüstung, er hatte nur das Licht seiner Taschenlampe.

Amir El-Jaddouh heute: Der inzwischen Zehnjährige hat das Zugunglück knapp überlebt. Weil Chris Fürstenberg ihn rechtzeitig fand?
Amir El-Jaddouh heute: Der inzwischen Zehnjährige hat das Zugunglück knapp überlebt. Weil Chris Fürstenberg ihn rechtzeitig fand? © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Im Licht der Taschenlampe: Erst fand er ein Handy, dann den Jungen

Drei Polizisten waren vor ihm da, ein Auto, sonst niemand. „Kein Rettungsdienst, keine Feuerwehr, das hat mich sehr gewundert.“ Die Bundespolizei befragte den Zugführer, Chris Fürstenberg leuchtete mit seiner Taschenlampe ins Gleisbett, an die Front der Lok. Routine, Gefühl, er sagt, er wollte nachsehen, ob da Blut war. Und da lag das Handy. Auf einem Stahlteil der Kupplung, mit dem Bildschirm nach unten. „Dieser Moment!“, sagt er und schüttelt noch heute den Kopf. Das Telefon gehörte nicht dem Triebwagenführer.

Sanitäter und Polizisten eilten den Zug entlang, „auf Höhe des dritten Waggons lag Amir“. Der Neunjährige lag auf dem Bauch, er atmete mühsam, war nicht ansprechbar. In seiner blauen Jacke, erinnert sich der Notfallsanitäter schaudernd, habe er ausgesehen wie ein abgelegter Müllsack. „Er hat gewimmert, aber er war am Leben.“ Fürstenberg begann zu arbeiten: lagern, untersuchen, versorgen... Der Polizist hielt dem Jungen tröstend den Kopf. „Von einer Sekunde auf die andere“, sagt Fürstenberg, „hast du statt einer kontrollierten Situation ein schwerverletztes Kind.“ Und wenige Meter weiter auf der anderen Seite der Bahn ein totes. Amirs kleiner Freund hatte den Aufprall nicht überlebt.

Notfallsanitäter wartete auf Hilfe: „Ich habe mich alleingelassen gefühlt“

Am liebsten hätte der Retter „acht Arme gehabt“, er wiederholt das mehrfach, zwei Hände waren nicht genug. Aber er war fast allein. Er erinnert sich noch an die spitzen Steine, die sich durch die Hosenbeine bohrten, an die Dornen der Brombeeren, die seine Handschuhe aufrissen. Durch den Kopf schoss ihm die Frage, wo die Hilfe blieb, die er sofort gerufen hatte. Es kam ein Notarzt, es kamen andere Sanitäter, Chris Fürstenberg kam es lang vor. Natürlich weiß er, dass sich Momente wie dieser grundsätzlich ziehen, aber: „Ich habe mich alleingelassen gefühlt.“ Und dann waren da immer wieder diese Gedanken: „Hätte man das Handy nicht gefunden, hätte man die Suche eingestellt? Was wäre dann passiert?“ Er hat damals „nicht geglaubt, dass das Kind das überleben wird“.

Recklinghausen-Ost: An dieser Stelle kletterte Chris Fürstenberg an jenem kalten und nassen Februarabend hinüber zur Lok, die rechts von ihm zum Stehen gekommen war. Auf deren Kupplung fand er ein Handy. Es gehörte einem der Kinder.
Recklinghausen-Ost: An dieser Stelle kletterte Chris Fürstenberg an jenem kalten und nassen Februarabend hinüber zur Lok, die rechts von ihm zum Stehen gekommen war. Auf deren Kupplung fand er ein Handy. Es gehörte einem der Kinder. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Chris Fürstenberg erzählt das alles mehr als 15 Monate später etwas atemlos und mit trockenem Mund, die Anspannung ist ihm anzumerken. Diesen Einsatz konnte er nicht abwaschen mit der Dusche, nicht ertränken in dem Kaffee, den die Erschöpften immer trinken in einer Ecke der Notaufnahme, wenn das Krankenhaus einen Verletzten aufgenommen hat. Er sagt, „der Einsatz war mein schlimmster“.

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Der Notfallsanitäter weiß, käme es zu einer juristischen Aufarbeitung des Abends, er wäre ein wichtiger Zeuge. Und er will nicht schweigen, er sagt, er sei der „der Fairnesstyp“. Und das Reden hilft ihm selbst, mit den belastenden Erinnerungen fertig zu werden. Amir hat er inzwischen kennengelernt, für dessen Vater Fadi El-Jaddouh ist Chris Fürstenberg „mein Held“.