Recklinghausen. Amir (9) aus Recklinghausen hat das Zugunglück im Februar schwerst verletzt überlebt, bei dem sein Freund starb. Wie es dem Jungen heute geht.

Amirs kleiner Freund kommt nicht mehr zum Spielen. „Er ist jetzt im Paradies“, sagt der Vater seinem Sohn. Aber Amir lebt, und „es ist ein Wunder, dass er noch hier ist“: Der Neunjährige hat das schwere Zugunglück in Recklinghausen überlebt. Ein Güterzug riss dort am 2. Februar zwei Kinder mit, ein zehnjähriger Junge starb. Amir wurde noch in der Nacht notoperiert, lag danach im Koma und monatelang im Krankenhaus. Am Montag war er zum ersten Mal wieder in der Schule.

„Du bist noch da“, Fadi El-Jadduoh sagt es immer wieder, nimmt seinen Sohn in die Arme, küsst ihn auf den Kopf mit seinen großen Narben, als könnte er es nicht glauben: „Er ist noch da!“ Aber er ist nicht mehr derselbe. „Wenn ich ihn angucke, zerreißt es mich“, sagt der Vater. Man sieht es nicht gleich, aber der Neunjährige zeigt es selbst. „Ich laufe schief.“ Amir hat das Laufen überhaupt erst wieder lernen müssen, das Sprechen auch, die Reha ist noch lange nicht vorbei. Es gibt ein Video aus der Klinik in Hattingen, aufgenommen mehr als zwei Monate nach dem Unfall, da sagt der Junge das Alphabet auf. Für die Familie ein großer Moment, einer der Hoffnung.

„Wir sind beide hier, wir sind nicht getrennt“: Fadi El-Jadduoh versucht, seinen Sohn Amir zu trösten.
„Wir sind beide hier, wir sind nicht getrennt“: Fadi El-Jadduoh versucht, seinen Sohn Amir zu trösten. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Schock, Angst, Sorgen, Trauer: Keine Kraft mehr für die Gefühle

Sie hatten davon am Anfang nicht viel. Amirs Gehirn war sehr schwer verletzt, sein Schädel mehrfach gebrochen, besonders geschädigt war jener Teil im Kopf, der beide Hirnhälften verbindet. Als die Ärzte im Gelsenkirchener Bergmannsheil den Eltern die MRT-Bilder erklärten, wurde dem Vater eiskalt, er beschreibt das heute so: „Wir waren emotional auf Null.“ Für einen Moment lang war keine Kraft mehr da für all’ die Gefühle. Die Angst, der Schock, die Sorgen, die Trauer, die Wut, Fadi El-Jadduoh hatte alles herausgeschrien an jenem Abend, dazu die bangen Fragen: „Wie konnte das passieren? Warum?“

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Es wird wohl nicht mehr geklärt werden können. Es war an jenem Donnerstag um 18.12 Uhr schon dunkel, als der Notruf einging: „Junge Leute vom Zug erfasst“, war die erste Meldung, als noch niemand wusste, wer und wie viele. Scheinwerfer und Blaulicht tauchten den Stadtteil in unheimliches Licht, halb Hillerheide geriet in Panik. Polizei und Anwohner klingelten am Abend an den Türen, Mütter kontrollierten, ob ihre Jüngsten in den Bettchen lagen. Bei den El-Jadduohs klopfte eine Nachbarin ans Fenster: „Sind eure Kinder alle da?“ Amir war nicht da. Sein Freund auch nicht.

Eigentlich durfte Amir nicht mehr zum Spielen nach draußen

Sie hatten zusammen gespielt an dem Nachmittag, wie so oft, bei den El-Jadduohs zu Hause. Eigentlich durften sie nicht mehr hinaus, einer hatte sich zuvor in der Küche eingeschlossen und eine Klinke abgebrochen, sie ist bis heute nicht repariert. Vater Fadi befreite die Jungs, er war ein bisschen böse. „Du bist frech“, sagte der 44-Jährige zu beiden. Hätte er doch nicht… El-Jadduoh schlägt die Hände vors Gesicht. „Hätte, hätte, hätte. Ich werde mein ganzes Leben nur noch ,hätte’ sagen.“

Amir bei einer Familienfeier. Der Vater teilte das Foto ein paar Tage nach dem Unglück.
Amir bei einer Familienfeier. Der Vater teilte das Foto ein paar Tage nach dem Unglück. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Irgendwie muss es den Jungen doch gelungen sein zu entwischen, aus dem Nelkenweg über die Straße hinüber zur Brücke am Bahndamm, wo noch ein paar verblasste Grabkerzen stehen. Hier haben sie oft gespielt, alle Kinder aus dem Viertel taten das, sagen die Nachbarn. Wo im Sommer Brennnesseln wuchern und Brombeeren, führen im Winter Trampelpfade hinauf zu den Gleisen. Dort oben fahren die Güterzüge, nicht sehr häufig, Amir kennt sie: Sie rollen am Ende ihres Gartens vorbei, oft haben sie Autos geladen. Amir wusste auch, dass so ein Zug gefährlich ist, aber: „Ich dachte, ich werde niemals getroffen.“

Sein Freund „hat leider die Welt verlassen“

Der kleine Junge sagt nicht viel, das Sprechen fällt ihm schwer. Aber diesen Satz sagt er genau so und macht seine Augen ganz groß dabei. Aber warum sind er und sein Freund überhaupt dort hinaufgegangen? War es eine Mutprobe, wie die Polizei vermutete, eine Abkürzung nach Hause, eine Schatzsuche? Amir sagt: „Wir haben Verstecken gespielt.“ Der Zug trug keine Fracht, seine E-Lok soll sehr leise gewesen sein. Es hieß, er habe die Kinder weit mitgerissen.

Wer Amir fragt, was ihm wehgetan hat, dem erzählt er zuerst von den gebrochenen Rippen und vom Rollstuhl. Aber dann schnell von seinem Freund: „Ich wurde nicht am schlimmsten getroffen.“ Hilfesuchend schaut er seinen Vater an, der versucht zu trösten. „Er hat leider die Welt verlassen. Aber wir beide sind hier, nicht getrennt.“ Fadi El-Jadduoh sagt, sein Sohn habe „zehn Engel bei sich gehabt“ und den lieben Gott, „er hatte richtig viel Glück“. Vergangene Woche hat ihm der andere Vater ein Foto geschickt von einem kleinen Grab. „Allah yerhamo“, sagt El-Jadduoh mit Tränen in den Augen, „schreiben Sie das!“ Es heißt „Gott segne dich“.

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Vater rannte barfuß auf die Straße und suchte seinen Sohn

Als der Familienvater an jenem Schicksalstag begriff, dass Amir nicht zu Hause war, rannte er schreiend auf die Straße, mit nackten Füßen, im Februar. Der Mann, der in Recklinghausen und Gelsenkirchen mit Reifen und Fahrzeugteilen handelt, nennt den Moment „die schrecklichsten Sekunden in meinem Leben“, dabei habe er im Libanon als Kind „den Krieg erlebt und die Bomben“. El-Jadduoh sagt, er will doch „nichts anderes, als meine Kinder großwerden sehen“.

Fußball-Talent: Amir wollte ein großer Kicker werden, nun musste er das Laufen wieder lernen.
Fußball-Talent: Amir wollte ein großer Kicker werden, nun musste er das Laufen wieder lernen. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Und er will, dass die Bahn ihre Gleise absperrt und wenigstens Schilder aufstellt, damit anderen Kindern nicht dasselbe passiert. Zäune sollen sie bauen und den Kindern in der Schule beibringen, dass sie nicht auf den Bahndamm laufen, nie und nirgendwo. Manchmal, wenn die Wut mal wieder stärker ist als der Kummer, überlegt der 44-Jährige, die Bahn zu verklagen. Nicht um Geld, das sei für ihn „nur Farbe auf Papier“, aber er möchte, dass „ein Richter“ sagt, dass Zäune kommen müssen. Die Deutsche Bahn hat schon am Tag nach dem Unglück erklärt, dass das nicht gehe. Das Streckennetz in Deutschland sei knapp 34.000 Kilometer lang, ein Zaun müssen „zweimal den Äquator umspannen“. El-Jadduoh würde es reichen, sie würden die Wohngebiete besser sichern, wie seines in Hillerheide.

Ein kleines Fußball-Talent

Amir hört seinem Vater zu, seine Augen hetzen unstet hin und her, „er sieht doppelt“, erklärt die große Schwester Miriam. Die Ohren wollen nicht, wie Amir will, er hört schlecht, er muss Tabletten nehmen gegen seine epileptischen Anfälle. Vor der Tür steht noch sein Fahrrad, er kann nicht mehr damit fahren, die Kette ist rostig geworden. Auch Fußballspielen geht noch nicht, dabei konnte das Kind das von allem am besten, seine Profi-Haltung ist auf einem Foto zu sehen. „Ich möchte“, sagt sein Vater, „dass du so wieder wirst.“ Dass er wieder ganz gesund wird. Auch boxen habe Amir gekonnt, drei Minuten lang, er sei „ein schneller Junge“ gewesen. Aber „sein Talent ist kaputt, das trifft uns auch“. Immerhin, über den Narben am Hinterkopf wachsen die ersten Haare.

Auf die Schule am Montag hat der Drittklässler sich diesmal unbändig gefreut, „auf meine ganzen Freunde“. Aber Amir blieb nicht lange. Für den Anfang schafft er nur zwei Stunden.

>>INFO: DIE ERMITTLUNGEN DER POLIZEI

Für die Polizei in Recklinghausen sind die Ermittlungen zum Zugunglück vom 2. Februar inzwischen abgeschlossen. Es gebe „keine Anhaltspunkte für eine Straftat“, sagt ein Sprecher, der Zugführer habe keinen Fehler gemacht. Man gehe von einem „sehr tragischen Unfall“ aus. Dessen genauer Hergang wird wohl ein Rätsel bleiben.

Der Lokführer, daran hatte auch die Bahn nie Zweifel, hatte jedenfalls keine Chance: Züge hätten einen „sehr viel längeren Bremsweg als ein Pkw“, hieß es im Februar, ein etwa 100 Stundenkilometer schneller Reisezug brauche rund 1000 Meter, bis er zum Stehen kommt. Der nächstgelegene Bahnübergang sei gesichert gewesen, das Betreten von Gleisen abseits davon überall verboten.