Recklinghausen. Nach Unfall in Recklinghausen erhebt Familie schwere Vorwürfe. Haben Einsatzkräfte Schuld an Schmerzen des Überlebenden? Wie die Stadt sich wehrt.

Amir hat wieder seine Brille nicht auf. Und die Hörgeräte, sagt der Zehnjährige verschmitzt, „sind beim Doktor“, Batterien alle. Vater Fadi El-Jaddouh versucht zu schimpfen, er kann es nicht, nimmt seinen Sohn lieber in den Arm. Dieses Kind, das tot sein könnte wie sein Freund, der damals dabei war, oder mindestens ein lebenslanger Pflegefall: Amir war neun, als er das schwere Zugunglück am 2. Februar 2023 in Recklinghausen nur knapp überlebte. Fadi El-Jaddouh dankt „dem lieben Gott hundertmilliardenmal“ dafür und hat auf Erden trotzdem Anzeige erstattet. Die Retter hätten zu lange gebraucht, an der falschen Stelle gesucht, es geht um fahrlässige Körperverletzung.

„Er lebt“, sagte man den Eltern am späten Abend vor 15 Monaten, „aber er ist in Lebensgefahr.“ Trotzdem war die Familie erleichtert, doch das MRT des Kopfes nach den ersten Operationen ergab ein Schreckensbild: Amir würde wohl nie wieder laufen lernen, essen, sprechen. Und jetzt klettert dieser kleine Junge über die Reifen im Handel seines Vaters und erzählt freundlich in die Kamera: „Ich habe immer gute Laune.“ Außer neulich, da nahm ihn der Vater zum ersten Mal mit an das Grab seines Kumpels. Da, sagt Fadi El-Jaddouh, habe sein Sohn „geweint wie ein Baby“.

Amir vor einem Jahr bei einem Treffen mit dieser Zeitung am Bahndamm, wo das Unglück passierte. Damals kam er gerade aus der monatelangen Reha, ging erstmals wieder zur Schule.
Amir vor einem Jahr bei einem Treffen mit dieser Zeitung am Bahndamm, wo das Unglück passierte. Damals kam er gerade aus der monatelangen Reha, ging erstmals wieder zur Schule. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Vater: Der Unglückstag war „der schlimmste meines Lebens“

Die Augen sind schlechter geworden, auf einem Ohr kann der Zehnjährige gar nichts mehr hören, beim Fußballspielen bekommt er Krämpfe in den Beinen. „Er ist nicht mehr wie früher“, sagt der Vater. Aber Amir spielt wieder, er lacht, er hat wieder etwas abgenommen, seit er die ersten Medikamente absetzen durfte. Über die schlimmsten Narben sind Haare gewachsen. Der Vater sagt, „der liebe Gott hat das gemacht“. Er lässt den Jungen nicht mehr so einfach raus, aber er hat ihm sein Fahrrad repariert, das rostig geworden war während der Reha.

Für Fadi El-Jaddouh war jener kalte, feuchte Tag vor 15 Monaten „der schlimmste meines Lebens“. Stundenlang stand er damals barfuß in der Dunkelheit, nachdem er hastig aus dem Haus gerannt war: Oben auf dem Bahndamm suchte man nach Kindern, die ein Zug angefahren haben sollte, unten in der Wohnung fehlte der kleine Amir. Eineinhalb Stunden lang, sagt der Vater heute, hätten Feuerwehr und Polizei einen Kilometer hinter dem Zug gesucht statt davor. Der Personenunfall war allerdings tatsächlich einige Hundert Meter streckenaufwärts gemeldet worden. Sie seien aber auch zu langsam gewesen, sagt der Vater, als Sanitäter den schwerst verletzten Amir in der Nähe der Lok fanden. „Sie hätten rennen müssen. Wo ist mein Sohn geblieben in dieser Zeit?“

Die Familie El-Jaddouh glaubt, wenn nicht der Sanitäter und ein herbeigeeilter Notarzt geholfen hätten, „wäre Amir nicht mehr hier“. Der lag mit schweren Kopf- und Lungenverletzungen und in kritischem Zustand im Gleis. „Sie haben meinen Sohn gerettet!“ Es hat ein bisschen gedauert, bis er das in seinem Schmerz so sah, aber dann hat Fadi El-Jaddouh Anzeige erstattet, gegen den Chef der Recklinghäuser Feuerwehr und den Einsatzleiter wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt.

Der Abend des 2. Februar 2023: Polizisten sichern einen Bahnübergang, in den Gleisen vermuteten Retter die vermissten Kinder.
Der Abend des 2. Februar 2023: Polizisten sichern einen Bahnübergang, in den Gleisen vermuteten Retter die vermissten Kinder. © dpa | Thomas Banneyer

Rechtsanwalt der Familie wirft der Stadt „chaotische Zustände“ vor

Die Staatsanwaltschaft Bochum stellte das Verfahren Ende vergangenen Jahres zwar ein, inzwischen aber hat der Rechtsanwalt der Familie, Hans Reinhardt, Widerspruch eingelegt. Auch der Notarzt selbst war zuvor aktiv geworden: Er schickte zu Jahresbeginn eine Dienstaufsichtsbeschwerde an die Bezirksregierung. Darin geht es zwar vor allem um den Umgang der Stadt mit dem Mediziner nach dem Unglück; einige Einsatzleiter hatten eine weitere Zusammenarbeit mit dem kritischen Arzt offenbar abgelehnt. Er schildert aber auch den Abend aus seiner Sicht. Beide Schreiben liegen dieser Zeitung vor.

Es geht um angeblich schwere Fehler der Einsatzführung und „chaotische Zustände am Unfallort“. Um Hilfe, die zu spät und mit zu wenigen Kräften an der tatsächlichen Unfallstelle eingetroffen sein soll, um Nachalarmierung, die, so wird behauptet, nicht stattfand. Auch nach dem Auffinden der beiden Kinder sei es noch zu Verzögerungen und weiteren Fehlern gekommen. Hätte man Amir Schmerzen ersparen können, hätte er durch eine frühere Behandlung auch später weniger leiden müssen? Rechtsanwalt Reinhardt bejaht beides, er ist sicher, „dass der Geschädigte mit den erlittenen Schädel-Hirn-Verletzungen und einer mittelschweren Bewusstseinstrübung eindeutig und unzweifelhaft starke Schmerzen empfunden hat“. Ein ärztliches Gutachten, auf das die Staatsanwaltschaft sich stützt, bestreitet das offenbar.

Gegen die Einstellung des Verfahrens hat Rechtsanwalt Hans Reinhardt bei der Staatsanwaltschaft Widerspruch eingelegt.
Gegen die Einstellung des Verfahrens hat Rechtsanwalt Hans Reinhardt bei der Staatsanwaltschaft Widerspruch eingelegt. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Stadt Recklinghausen sieht „kein Fehlverhalten der Rettungskräfte“

Weder sie noch die Klinik, die das Gutachten erstattet hat, wollen sich derzeit zum laufenden Verfahren äußern. In Recklinghausen schlug eine erste Berichterstattung über die Beschwerde des Arztes hohe Wellen. Ende April reagierten Stadt und Kreis mit einer ausführlichen Stellungnahme: Nach eigenen Prüfungen, aber auch Erkenntnissen etwa durch einen unabhängigen, vom NRW-Innenministerium empfohlenen Gutachter, sei „kein Fehlverhalten der Rettungskräfte festzustellen“. Der frühere Chef der Feuerwehr Berlin und später des THW habe in seiner Expertise erklärt, es gebe keine von den Einsatzkräften zu verantwortenden Umstände, die zu dem „tragischen Verlauf“ beigetragen hätten. Der Einsatz sei mit einer ausreichenden und üblichen Anzahl an Kräften bearbeitet worden; nach der Nachricht vom Fund Amirs sei „sofort“ die Verlegung des Einsatzortes veranlasst worden. Die Vorwürfe des Notarztes hätten sich „nicht bestätigt“. Tatsächlich ist bis heute nicht zweifelsfrei festzustellen, wo genau der Güterzug die Kinder erfasste.

Anwalt Reinhardt bleibt dabei: Die Einsatzleitung gehöre vor Gericht, es gehe um „krass fehlerhafte Organisation“. Amir habe nur durch eine glückliche Fügung überlebt: „Wäre das Handy nicht gefunden worden, dann wäre er auch nicht gefunden worden. Und wäre letztlich verstorben.“ Für die Familie El-Jaddouh will er weiter streiten, in der Hoffnung, „dass die Ermittlungen wieder aufgenommen werden, damit Anklage erhoben wird und die Wahrheit ans Licht kommt“.

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Amirs Vater Fadi will, dass die Verantwortlichen „für ihre Fehler geradestehen“. Für ihn ist der Notarzt ein „Ehrenmann“, er möchte auch ihm helfen. Und wendet sich in der Sache an den NRW-Innenminister: „Der soll sich kümmern.“ Herbert Reul war an jenem Februarabend da, er habe den Familien gesagt, sie sollten sich melden, wenn sie Hilfe brauchen. Das ist jetzt, sagt El-Jaddouh.

Eigentlich hatte er ja nur einen Wunsch: „Ich wollte, dass Amir zurückkommt.“ Früher habe er an ein gutes Leben für seine vier Kinder gedacht, geplant, ihnen ein Haus zu kaufen. „Heute denke ich nicht mehr viel an Geld.“ Gesundheit sei Luxus, hat der gebürtige Libanese verstanden. Und Gerechtigkeit. „Für sie werde ich kämpfen, so lange ich lebe.“