Bochum. Pflege ist stressig und wenig familienfreundlich. In Bochum reagiert ein Krankenhaus und bietet eine noch seltene Ausbildung an.

Wenn die Kinder schlafen, greift sich Maike Glück einen Energydrink und lernt. Dann paukt sie sich ein, wie eine Thrombose entsteht, welche Risikofaktoren es für ein Druckgeschwür gibt und was bei der Pflege von Patienten mit Gelenkprothese zu beachten ist. Gegen die Müdigkeit hilft nicht nur Koffein, sondern auch Leidenschaft: Maike Glück will unbedingt in die Pflege, schon seit sie als Mädchen mit dem Playmobil-Krankenhaus gespielt hat. Heute ist sie 42 Jahre alt, hat mit ihrem Mann vier Kinder und ein Haus. Trotzdem steckt sie mitten in der Ausbildung zur Pflegefachkraft und sagt: „Ich bin angekommen.“

Möglich macht das ein Ausbildungsmodell, wie es nur selten in NRW zu finden ist: Am Bochumer Bildungs­institut für Berufe im Gesundheits­wesen (Bigest) werden derzeit 20 Frauen in Teilzeit zur Pflegefachkraft ausgebildet. Sie arbeiten 75 Prozent einer Vollzeitstelle und damit knapp 30 Stunden in der Woche. Ihren Dienstplan für praktische Einsätze auf den Krankenhausstationen können sie sich selbst zusammensetzen. Sie lernen selbstbestimmt zu Hause, wann immer es in den Alltag passt. Und wenn es gar nicht anders geht, darf das eigene Kind auch mit zur Berufsschule.

„Wir haben ein Modell gesucht, das Pflege und Familie miteinander vereinbar macht“, sagt Katharina Materna von der erweiterten Bigest-Schulleitung, dem hauseigenen Campus des Katholischen Klinikums Bochum. „In Zeiten des Fachkräftemangels braucht es solche Ansätze, um Menschen für die Ausbildung gewinnen zu können.“

Teilzeit-Ausbildung ist eine Nische in der Pflege

In kaum einer Branche ist der Personalmangel so groß wie in der Pflege. Landesweit waren 2023 mindestens 7.300 Stellen für Pflegefachkräfte unbesetzt. Kliniken und Pflegeheime suchen allerorten Wege, Personal zu gewinnen und zu halten. Der Druck wächst: Laut NRW-Pflegekammer wird in den kommenden 15 Jahren ein Drittel aller etwa 225.000 heute tätigen Pflegekräfte in Rente gehen.

„Wir haben ein Modell gesucht, das Pflege und Familie miteinander vereinbar macht“, sagt Katharina Materna von der erweiterten Schulleitung des Bochumer Bildungsinstituts für Berufe im Gesundheits­wesen.
„Wir haben ein Modell gesucht, das Pflege und Familie miteinander vereinbar macht“, sagt Katharina Materna von der erweiterten Schulleitung des Bochumer Bildungsinstituts für Berufe im Gesundheits­wesen. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Um schon die Ausbildung attraktiver zu machen, ist seit 2020 eine Lehre in Teilzeit über vier statt regulär drei Jahre generell möglich. Genutzt wird dieser Weg bislang aber kaum: Gerade einmal 213 Pflege-Azubis in Teilzeit zählt die aktuelle NRW-Pflegestatistik. Das sind weniger als ein Prozent aller Nachwuchskräfte in der Pflege. Dabei soll die Teilzeitausbildung jenen den Weg in die Branche ebnen, die Familie und Beruf nur schwer unter einen Hut bekommen können.

„Du hast jetzt ein Kind“: Lieber eine Ausbildung mit familienfreundlichen Arbeitszeiten

Das war auch der Grund, warum Maike Glück nicht schon in jungen Jahren in die Pflege gegangen ist. Sie besuchte noch die Schule, als sie Mutter wurde. Ihre eigenen Eltern rieten zu einem Beruf mit familienfreundlicheren Arbeitszeiten, ohne Schichtdienst und Nachteinsätze. Glück machte die Ausbildung zur Industriekauffrau und arbeitete bis Juni des vergangenen Jahres als Assistenz der Geschäftsführung in der Wohnungswirtschaft.

Und jetzt? Wieder alles auf Anfang für einen Kindheitstraum? „Ja, mein Chef war schon überrascht, aber das Arbeiten im Büro hat mich nicht mehr zufrieden gemacht“, sagt Glück. Der Wunsch, in die Pflege zu gehen, habe sie immer begleitet, und ließ sie nach Möglichkeiten zum Einstieg suchen. Ihre Familie unterstütze sie, sagt die 42-Jährige, derzeit sei ihr Mann in Elternzeit für die einjährige Tochter. „Ich habe heute schon von sechs bis neun Uhr gearbeitet“, sagt Glück und kichert fast.

Katharina Sandkühler und Maike Glück mit Ausbilderin  Bettina Lenk (v.l.).
Katharina Sandkühler und Maike Glück mit Ausbilderin Bettina Lenk (v.l.). © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Keine starren Arbeitszeiten: Azubis arbeiten, wie es in den Alltag passt

Am Bochumer Institut Bigest ist der erste Teilzeit-Jahrgang im vergangenen November an den Start gegangen, weil Nachfragen bei Berufsmessen und in persönlichen Gesprächen immer häufiger wurden. Rund eineinhalb Jahre dauerte die Vorbereitung, zu der viel Werbung, auch im eigenen Haus gehörte. „Schichtübergabe auf den Stationen ist sechs Uhr, für diesen neuen Jahrgang mussten die Zeiten aber viel flexibler sein“, nennt Katharina Materna von der Schulleitung einen möglichen Grund dafür, warum die Teilzeitausbildung bislang noch eine Nische ist. Die Teilzeit-Azubis können auch nach acht Uhr anfangen, wenn die Kinder in der Kita oder Schule sind. Was Materna half: Am Katholischen Klinikum Bochum ist man bereits geübt in flexiblen Arbeitszeitmodellen für Fachkräfte, die der Pflege ansonsten wohl den Rücken zudrehen müssten.

Kammer: 80 Prozent brechen Teilzeit-Ausbildung ab

Vor vier Jahren sind die Ausbildungen der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege zu einem Ausbildungsberuf zusammengefasst worden, in dem sich junge Menschen erst zum Ende hin verbindlich für einen Bereich festlegen müssen. Seit der Reform gibt es die reguläre Chance auf eine Teilzeitausbildung. In Bochum arbeiten Teilzeit-Azubis 75 Prozent einer Vollzeitstelle. Die Ausbildung dauert vier statt regulär drei Jahre. Die Teilzeit-Azubis starten mit knapp 900 Euro/Monat, zum Ende der Ausbildung steigt der Lohn auf über 1000 Euro.

Die Pflegekammer NRW sieht in der Teilzeit-Ausbildung eine gute Alternative für Alleinerziehende, pflegende Angehörige oder Zugewanderte, die neben der Ausbildung einen Sprachkurs machen möchten. Bislang habe sich das Modell aber nicht zufriedenstellend bewährt. Die Abbruchquote liegt mit 80 Prozent deutlich über der der Vollzeit-Ausbildung (30 Prozent), zudem kämpften Bildungseinrichtungen mit Finanzierungslücken und hohem Bürokratieaufwand. „Hier müssen wir unbedingt ran, wenn wir zukunftsträchtige Teilzeit-Angebote machen möchten“, sagt Sandra Postel, Präsidentin der Pflegekammer NRW.

Das Land NRW unterstützt Teilzeitausbildungen und fördert jährlich über 500 Plätze mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfond an derzeit 51 Standorten.

Bettina Lenk, Kursleiterin der Teilzeit-Azubis, findet, dass die Kliniken von ihren Schützlingen stark profitierten. Sie brächten viel Lebenserfahrung mit, arbeiteten selbstständiger und hätten eine hohe Motivation. „Sie hinterfragen viel und arbeiten mit Weitsicht“, sagt die 57-jährige Kursleiterin. Ein Krankenhaus gewinnt mit ihnen also Personal, das geübt darin ist, auch in stressigen Situationen den Überblick zu bewahren und sich zu organisieren.

Katharina Sandkühler glaubt, dass das auch mit dem Muttersein zu tun habe. „Auch in Situationen, die uns vielleicht triggern und ekeln, erledigen wir die Dinge“, sagt die 27-jährige Pflegeschülerin. „Da gibt es keine Diskutiererei.“ Für Sandkühler ist die Teilzeitausbildung eine lange gesuchte Chance. Sie ist mit 18 Jahren Mutter geworden, engagierte sich als Integrationshelferin, weil sie als alleinerziehende Frau keine Vollzeitausbildung stemmen konnte - wollte aber ebenfalls immer in die Pflege. „Mich fasziniert der medizinische Bereich.“

Heute renne ihr die neunjährige Tochter auf dem Schulflur stolz entgegen, wenn Sandkühler sie nach einem wichtigen Tag auf der Arbeit abholt. „Ich habe auch Tage, da denke ich, ich müsste eigentlich mal durchsaugen und die Wäsche machen“, sagt die 27-Jährige und fügt ohne Pathos an: „Natürlich ist das hier stressig, aber es ist auch schön.“ Kinderkrankenschwester habe sie immer werden wollen, nun findet sie Freude an der Arbeit auf der Rheumatologie. Auch sie spricht von einem Gefühl des Ankommens. „Ich stehe morgens gerne auf“, erklärt sie. „Ich freue mich, zur Arbeit gehen zu können.“