Gelsenkirchen. Beleidigungen und Übergriffe in NRW-Kliniken nehmen zu. Ein Gelsenkirchener Krankenhaus will es genau wissen - und reagiert prompt.
Der Angriff kommt unerwartet. In der Notaufnahme scheppert es laut. Eine der Pflegekräfte eilt dem Geräusch entgegen, doch dort trifft sie auf einen Patienten. In der Hand hält er die Scherbe einer zerschlagenen Glasflasche. Offenbar will er sich selbst etwas antun, entscheidet sich dann aber um. Und geht auf die Pflegekraft zu.
Eine zufällig vorbeigehende Kollegin kann Schlimmstes abwenden. Sie zieht den Mann nach hinten, die Pflegekräfte bringen sich in Sicherheit.
Es ist eine extreme Geschichte, von der Norman Becker, Chefarzt der Klinik für Akut und Notfallmedizin am Evangelischen Klinikum Gelsenkirchen, da berichtet. Und doch: „Beinahe-Zwischenfälle werden mehr“, sagt der Mediziner mit einem rund 50-köpfigen Team. „Zu den ganz schlimmen Vorfällen kommt es zum Glück seltener, aber die Tendenz ist steigend.“
Fast drei Viertel der Krankenhäuser in NRW berichten von mehr Übergriffen
Bundesweit wird der Notruf aus den Kliniken lauter. In einer repräsentativen Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts gaben fast drei Viertel der Krankenhäuser an, dass die Zahl der Übergriffe durch Patienten oder Angehörige in den vergangenen fünf Jahren mäßig oder deutlich gestiegen sei.
Einen Beleg dafür liefert das Landeskriminalamt. 2022 hat es über 1500 sogenannte Rohheitsdelikte wie Drohungen oder Nötigungen in NRW-Krankenhäusern gezählt - 29 Prozent mehr als im Vor-Coronajahr 2019. In den allermeisten Fällen sind laut der Befragung im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft Pflegekräfte von der Gewalt betroffen und am häufigsten ist die Notaufnahme der Tatort.
Fast täglich melden Mitarbeitende der Notaufnahme Übergriffe, Aggressionen oder Beleidigungen
In Gelsenkirchen häuften sich die Berichte über Aggressionen gegen Mitarbeitende vor rund zwei Jahren. Chefarzt Hecker wollte es genau wissen und gab seinen Mitarbeitenden die Chance, Übergriffe und Aggressionen digital zu erfassen. 300 Fälle wurden 2023 registriert, also fast einer am Tag in der Notaufnahme eines einzelnen Krankenhauses. Die Dunkelziffer dürfte viel größer sein: „Ich würde die tatsächliche Zahl 15 bis 30 Prozent höher einschätzen.“
Mehrheitlich sei es um Bedrohungen und Beleidigungen gegangen, sagt Hecker. Frauenfeindliche Sprüche, Beschimpfungen aus „einem Sammelsurium aller menschlichen Äußerungen, die so möglich sind“, umschreibt Hecker das Erlebte. „Wir sind auch als Rassisten und Nazis beschimpft worden, das sitzt besonders tief“, sagt Hecker, seit fünf Jahren Chefarzt in Gelsenkirchen. „Es ist auch besonders absurd. Wir sind ein interkulturelles Team hier.“ Auch Handgreiflichkeiten und Übergriffe habe es gegeben, von sexueller Belästigung wird berichtet. Bis zu vier Fälle wurden angezeigt.
Vollkasko-Mentalität und lange Wartezeiten: Situationen in Kliniken eskalieren schnell
Die Täter waren eher Männer und mehrheitlich Angehörige von Patienten, aber auch Frauen fallen inzwischen häufiger auf - mit, aber genauso ohne Zuwanderungsgeschichte. Alkohol spielt eine Rolle, andere Substanzen, auch psychische Erkrankungen. Hecker will deutlich verstanden sehen, dass diese Aggressivität gegen medizinisches Personal überall beobachtet werde. Dass der Blaulichtbereich so stark betroffen sei, findet er besonders perfide: „Wir sprechen hier über unsere medizinische Gefahrenabwehr. Das sind unsere Helfer in der Not.“
Es fehlt an Respekt: In der deutschlandweiten Klinik-Umfrage nannten 73 Prozent der Krankenhäuser einen allgemeinen Respektverlust gegenüber Krankenhauspersonal als eine der Hauptursachen für zunehmende Gewalt. Zwei von fünf Häusern glaubten zudem, dass lange Wartezeiten eher zur Eskalation führten. Die steigen seit Jahren, weil längst nicht nur akute Notfälle, sondern Hilfe suchende Menschen mit einer Vielzahl von Problemen in die Ambulanzen drängen, die wiederum immer mehr Aufgaben übernehmen müssen.
„Es kommen Menschen mit einer Vollkasko-Mentalität, nach der das eigene Problem sofort gelöst werden muss“, beobachtet Hecker. Wartezeiten, die emotionale Ausnahmesituation und eine eh schon angespannte gesellschaftliche Grundstimmung - so eskalieren Situationen.
Sicherheitsdienst und Notfall-Schloss: Kliniken reagieren auf Übergriffe
Viele Kliniken ergreifen Gegenmaßnahmen, schulen ihr Personal in Deeskalation, greifen aber auch auf Videoüberwachung oder Sicherheitsdienste zurück – und wünschen sich eine Strafverschärfung. Ähnliches war zuletzt im Zusammenhang mit Übergriffen auf Politikerinnen und Politiker gefordert worden.
Norman Hecker ist skeptisch. „Das halte ich für eine plakative Politik. Was wir brauchen, ist eine Reform des Gesundheitswesens, damit wir die finanziellen Mittel haben, um weitere präventive Maßnahmen zu ergreifen.“ Mit Hecker mischt sich das Evangelische Klinikum Gelsenkirchen ein, tauscht sich in Netzwerken mit anderen Kliniken aus und rüstet auf: An der Notaufnahme muss man klingeln, Mitarbeitende können über einen weißen Notrufknopf am Handy Hilfe holen, wichtige Türen lassen sich so verschließen, dass Angreifer festgesetzt sind. Und für die Zeit der Europameisterschaft setzt das Krankenhaus sogar einen Sicherheitsdienst an der Notaufnahme ein.
Übergriffe machen wütend: „Wir sind doch hier, um den Leuten zu helfen“
Besonders betroffen von der Gewalt, das zeigen auch die Zahlen aus dem Ruhrgebiet, ist die Pflege. Mit Folgen für betroffene Klinikkräfte: Die psychische Belastung steigt, Personal fällt aus, anderes kündigt. Einer, der einen Messerangriff vor Jahren erlebt hat, kann die Situation heute noch haargenau beschreiben.
Trotz aller Belastung - Arbeiten gekommen sei er danach dennoch. Aus Loyalität gegenüber dem Team und dem Arbeitgeber, aber auch weil es auf anderen Stationen oder in der Altenpflege genauso zu Übergriffen kommen kann. „Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwer hier beschimpft oder beleidigt wird. Das macht einen manchmal wütend. Wir sind hier, um den Leuten zu helfen.“