Bergkamen/Lünen. Radtour durch Europa ist gestartet, Heiko Kautz besucht die Sehnsuchtsorte seiner Tochter. Unter welchem Zeichen sein Abschied stand.
Lena hat nie Kleider getragen, aber in der Fantasie ihres Vaters hat sie jetzt eines an, ein weißes. Es flattert im Wind wie ihre langen, blonden Haare. Sie sitzt im Damensitz auf dem Oberrohr seines Fahrrads, Heiko Kautz weiß sicher: „Sie lächelt.“ Allein, es gibt dieses Bild nur in seinem Herzen. Es soll ihm Kraft geben für eine besondere Radtour durch Europa. Am Ostermontag ging es los, vier Monate lang wird der 52-Jährige aus Bergkamen die Sehnsuchtsorte seiner Tochter bereisen – Städte, die sein krebskrankes Kind nicht mehr selbst erreichen konnte. Lena ist im Dezember gestorben, sie war erst 22 Jahre alt.
Die 22, es war die Zahl ihres Lebens, aber auch ihres Sterbens. Lena hat sie selbst gewählt; die begeisterte Fußballerin aus Lünen trug sie auf ihrem eigenen Trikot, seit sie beim BVB Christian Pulisic gesehen hatte. Der Spieler mit der Rückennummer 22 hatte es ihr angetan. Immer wieder passierten danach Dinge in ihrem Leben an einem 22., der Flug zum Studium in Göteborg etwa, im Jahr 2022. Am Ende trug das Zimmer auf der Palliativstation die Nummer 22, und an ihrem Todestag holte Lena den Sieg im Fußball-Tippspiel, mit der Punktzahl – 22.
Seltenes Sarkom: „Wir können jetzt nichts mehr machen“
Es war der 20. Dezember, die Eltern hatten fast erwartet, ihre Tochter würde es bis zum 22. schaffen. Aber dann fiel der Blick auf die Uhr: Todeszeitpunkt 22.22 Uhr. Fast drei Jahre hatte Lena gekämpft gegen eine seltene, aber aggressive Krebsart. Ein Sarkom hatte zuerst ihren Beckenknochen befallen, es kehrte zurück, bildete Metastasen, zum Schluss auch im Gehirn. Der Tag, als die Ärzte die Eltern baten zu kommen, als sie sagten: „Wir können jetzt nichts mehr machen“ – das war „der schlimmste Tag“. Ende November, keine drei Wochen vor ihrem Tod. Lena starb zuhause, neun Tage nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus. Das hatte sie sich gewünscht. Die Eltern ließen ihren Leichnam verbrennen, der Vater sagt: „Wir wollten einmal gewinnen gegen den Krebs.“
30 Chemotherapien hatte ihre Tochter hinter sich, als ihr zum zweiten Mal die Haare ausfielen, rasierte der Vater die seinen auch ab. Sie hat nicht oft geweint in seiner Gegenwart, an jenem Tag schon. Aber sie hat auch gelacht, es gibt ein Video davon: wie der Papa die erste Spur durch seine Haare zieht – aber dann ist der Akku leer. Lena, sagt der Vater, war immer stärker als die anderen: ging zum Studieren ins Ausland, fuhr mit dem Vater zu einem Champions-League-Spiel der Frauen in München, besuchte im Rollstuhl ein Konzert von Harry Styles, übte ihre Fußballtricks. Machte mit der Mama noch einmal Urlaub in Norddeich, wie so oft. Wurde wütend, wenn die Eltern, wenn der Bruder eine Party ausließen, weil sie zu traurig waren. „Es war ihr das Wichtigste, dass wir so weitermachen wie bisher.“ Am Tag, als Lena das Krankenhaus das letzte Mal verließ, lud sie Freunde ein.
Bandscheibenvorfall? Lena taten Bein und Rücken weh
Wie so viele Menschen hatten auch die Kautz‘ nicht gewusst, was ein Sarkom ist. „Wachstumsstörungen“, dächten sogar Ärzte oft. Bei Lena hatte es beim Training angefangen, der Oberschenkel tat ihr weh beim Laufen, der Rücken. Ein Bandscheibenvorfall? Ein Orthopäde fand das tatsächliche Problem sofort, überwies die junge Frau nach Essen, ins Sarkomzentrum der Universitätsmedizin. Bei vielen anderen Patienten kommt die Diagnose zu spät, bei Lena Kautz waren die Prognosen zunächst gut: Sie bekam Bestrahlung, man operierte ihr Becken, baute es nach aus Metall. Lena musste wieder laufen lernen, begann schon bald, ihre Balltricks zu üben.
Mit den Ärzten, erinnert sich ihr Vater, redete sie „auf Augenhöhe“, sie habe immer alles wissen wollen. Erst, was passiert, „wenn es wiederkommt“, später, wie es sein würde zu sterben. „Sie hatte Angst zu ersticken.“ Und dabei musste sie durch so vieles allein: Es war Corona, sie ging allein zum Arzt, sie sprach allein mit den Experten. Heiko Kautz erinnert sich noch an ihren ersten schrecklichen Anruf, er saß im Büro: „Das ist Knochenkrebs.“ Sagte sein Kind in den Hörer, und er hatte das Gefühl, „das Leben hört auf“. Wie viele Stunden die Eltern vor dem Krankenhaus im Regen standen, weiß er nicht mehr, wegen der Pandemie durften sie lange nicht hinein.
Dem Vater war „klar, was jetzt kommt: Was man nie will“
Die Diagnose war fürchterlich, „danach kamen eigentlich viele gute Nachrichten“. Neun Monate galt Lena als krebsfrei, „aufgeben war für sie nie eine Option“. Das Rezidiv zeigte sich, da war sie gerade in Schweden. Der Vater holte sie ab, da konnte sich seine Tochter kaum noch bewegen, am Flughafen stürzte sie. Trotzdem wollte sie nur so wenig Medikamente wie möglich nehmen. Einmal hörte Heiko Kautz ihre Schmerzensschreie bis auf den Krankenhausflur. Als Lena erst einen Arm, dann ein Bein nicht mehr heben konnte, „war klar, was jetzt kommt: Was man nie will“.
Lena hatte den Arzt gebeten, ihren Eltern reinen Wein einzuschenken, sie wollte sie nicht weinen sehen. „Wenn jemand sagt, sie wird bald sterben“, sagt Heiko Kautz mit Tränen in den Augen, „dann glauben Sie nicht, dass der von ihrer Tochter spricht.“ Dass Menschen sterben, sei „nicht das Problem. Aber wenn Kinder vor ihren Eltern sterben, das ist das Schlimmste. Das sollte ausgeschlossen sein.“ Sie war doch erst 22!
Heiko Kautz sagt, diese 22 ist so etwas wie die Familienzahl geworden. Sie begleitet den Vater nun auch auf seiner Reise: Hinten am Rad, vor den Packtaschen, hat er das alte Autokennzeichen seiner Tochter befestigt. LÜN-LK 22, in die Mitte hat er ein rotes Herz stanzen lassen. Am Morgen seines Abschieds überraschen ihn Freunde seiner Tochter mit einem weiteren Zeichen: Sie haben sich die Ziffern auf ihre Arme tätowieren lassen.
Die Reiseroute hat die Familie nach Lenas Tod in einer Notiz auf ihrem Handy gefunden: Städte, die sie gern noch besucht hätte, hatte sie dort aufgeschrieben. Prag, Wien, Mailand, Madrid. Eigentlich wollte sie mit dem Vater nach Südostasien, die Flüge waren schon gebucht. „Wenn nicht, nehmen wir das Rad“, haben sie gescherzt.
„Eine wunderbare Möglichkeit, mich meiner Tochter ganz nah zu fühlen“
Und nun fährt der Vater mit dem Rad, aber nicht nach Fernost. „Wo mein Herz hinwollte, das schaffe ich nicht.“ Aber der Arbeitgeber gibt ihm noch ein paar Monate frei, „und plötzlich ergab das Sinn“. Als Heiko Kautz die Liste sah, war er „ein Stück erleichtert, ich hatte plötzlich ein Ziel“. Er hat es selbst so aufgeschrieben: „Ich sehe in dieser Fahrradreise eine wunderbare Möglichkeit, mich meiner Tochter ganz nah zu fühlen und meine Erinnerung an sie lebendig zu halten.“ Durch seine Augen solle sie alles sehen, was er sieht. „Indem ich die Städte anfahre, die sie gerne noch zu Lebzeiten besucht hätte, werde ich mich mit ihr so stark wie nur möglich verbunden fühlen.“
Einen Glücksbringer hat der 52-Jährige dabei, seine Armbanduhr nicht. Er will sich treiben lassen, nicht planen. Man kann nicht planen, „was ist mit dem Wetter, was ist mit mir“? Kann einer das aushalten, diese Gefühle? Es war ja bisher jeden Tag so, dass er ans Fenster ging und mit Lena „quatschte“, so wie früher. „Und sei es nur über die Fußballergebnisse, Fußball geht immer.“ Ob die Reise „das Richtige“ ist, weiß Heiko Kautz nicht. Es ist sein Versuch, mit der Trauer zu leben.
>>INFO: DAS SARKOM, EINE SELTENE KREBSART
Gleichzeitig will Heiko Kautz anderen helfen: Die Deutsche Sarkomstiftung unterstützt die Radtour, und Kautz unterstützt sie. Er will Spenden sammeln für die Patientenarbeit, für die Forschung, so wie Lena selbst es getan hat, als sie noch konnte. „Ich wollte“, sagte sie kurz vor ihrem Tod zu Stiftungsmitarbeiterin Maria Brandt aus Witten, „ich wollte wirklich Gutes tun in der Welt.“ Nun übernimmt ihr Vater. Was Lena davon halten würde? „Super“ würde sie sagen, hofft Heiko Kautz. Seine Tochter war ein Fan der sozialen Medien, kleine Youtube-Filmchen schnitt sie binnen Minuten.
Schon jetzt hat der Instagram-Account der Sarkom-Stiftung unter „Lena‘s points of view“ (Lenas Ansichten) viele Follower. „Die folgen natürlich nicht mir“, sagt Heiko Kautz, „die folgen Lena.“ Mit dem Rad durch halb Europa, später womöglich auch nach London und auf die Insel Korfu. Und nach Norddeich, was die Eltern jetzt noch nicht können, „weil sie dort überall ist“. Und, wer weiß, Heiko Kautz gibt den Plan noch nicht auf: folgen die Menschen seiner Tochter irgendwann doch noch nach Asien.
Vater sammelt Spenden für die Deutsche Sarkomstiftung
Das Sarkom ist eine bösartige Geschwulst, die vor allem in den Knochen oder Weichteilen des Körpers entsteht und meist frühzeitig in die Blutgefäße metastasiert. Sarkome gehören zu den malignen Tumorerkrankungen (Krebs), sind aber viel seltener als Karzinome – sie machen nur etwa ein Prozent der Krebserkrankungen beim Menschen aus. Bei Kindern tritt ein Sarkom häufiger auf: bis zu elf Prozent.
Der Forschung macht das Sarkom die Arbeit nicht einfach: Es gibt um die 100 verschiedene Subtypen von Sarkomen, jedes mit eigenem biologischen Verhalten und Verlauf, jedes braucht deshalb eine eigene Therapie. Schon die Diagnose ist schwierig; nicht alle Ärzte haben Erfahrung mit Sarkomen. Zu spätes Erkennen oder eine falsche Behandlung erhöht natürlich das Risiko. In Lenas Fall reagierte ihr Orthopäde allerdings schnell, verwies sie an das Sarkomzentrum des Deutschen Tumorzentrums am Universitätsklinikum Essen.
Als seltene Krebserkrankung, klagt die Deutsche Sarkom-Stiftung, „haben Sarkome oft eine schlechtere Prognose im Vergleich zu häufigeren Krebsarten“. Deshalb setzt sich die Stiftung nicht nur für Patienten und ihre Angehörigen, sondern auch für weitere Forschung von Sarkomen, für bessere Versorgung und Behandlung der Betroffenen ein.
Hier können Sie die Reise von Heiko Kautz verfolgen:
Internet: https://www.sarkome.de/news/lena-tour
Instagram: @sarkome.de
Hier können Sie spenden:
Per Paypal: PayPal.Me/lenatour
Per Überweisung: Deutsche Sarkom-Stiftung
Volksbank Mittelhessen
IBAN: DE51 5139 0000 0073 1063 11
BIC: VBMHDE5F
Verwendungszweck: Lenas Tour