Bochum. Daniel Wolski (41) gibt vor Gericht zu, Minderjährige für Sex bezahlt zu haben. Auch ein Kind setzte er unter Druck: „Das tut mir leid.“

Am zweiten Prozesstag hat der frühere Vize-Bürgermeister von Lünen wie erwartet seine Aussage begonnen. Er werde die Anklage „so wie hier beschrieben einräumen“, erklärte Daniel Wolski am Morgen vor dem Bochumer Landgericht. Punkt für Punkt geht er die Vorwürfe durch, antwortet meist mit einem „Das ist korrekt.“ Auf peinlichere Fragen der Vorsitzenden kommt ein zunehmend heiseres „Ja“. Schon am Vortag hatte der 41-Jährige angekündigt, sich einzulassen.

Sein Gesicht verdeckt er gar nicht erst, kein Aktendeckel, kein Ordner, keine Maske. Das Publikum im Saal hat ohnehin ein Bild dieses Angeklagten. Dieser Mann ist nicht anonym, er war Ratsherr in Lünen, ließ sich zum stellvertretenden Bürgermeister wählen, stand jahrelang den örtlichen Jungsozialisten (Jusos) vor. Vorbei. Nach seiner Festnahme im Oktober trat Daniel Wolski von allen Ämtern zurück, nun steht er als Untersuchungshäftling vor Gericht: Der 41-Jährige soll fünf Jahre lang Minderjährige für Sex bezahlt haben.

Den roten Schlips hat er abgelegt, das freundliche Lachen ist weg. Ansonsten sieht der Angeklagte – graues Sakko, weißes Hemd, Seitenscheitel – dem Foto immer noch ähnlich, mit dem er in Lünen für sich und seine Politik warb, mit dem er sich bei Facebook bis heute bürgernah zeigt. Und mit dem er laut Anklage seit 2018 versuchte, mit Jugendlichen aus der Region und sogar Kindern Kontakt aufzunehmen. 36 Taten wirft die Staatsanwaltschaft ihm vor: Verabredungen zu Geschlechtsverkehr und Oralsex gegen Entgelt, Austausch von Nacktbildern, Besitz von kinder- und jugendpornografischem Material.

Hier hat am 21. März der Prozess gegen den früheren Vize-Bürgermeister begonnen: das Landgericht Bochum.
Hier hat am 21. März der Prozess gegen den früheren Vize-Bürgermeister begonnen: das Landgericht Bochum. © DPA Images | Bernd Thissen

Fünf mutmaßliche Opfer werden von Nebenklägern vertreten

Falls ihn die Fotografen und Kameraleute nervös machen, sieht man Wolski das nicht an. Äußerlich ruhig sitzt der gelernte Versicherungskaufmann neben seinem Verteidiger, liest die Anklage mit, allein die auf dem Tisch verschränkten Finger sind sichtbar angespannt. Als er das Wort ergreift für seinen Lebenslauf, wendet er sich persönlich an Staatsanwalt und Gericht, an die „sehr verehrten Damen und Herren“. Die Bank ihm gegenüber ist vollbesetzt: Neben dem Ankläger eine psychiatrische Gutachterin, daneben gleich fünf Nebenkläger, stellvertretend für fünf junge Opfer.

Mädchen und Jungen zum Teil aus schwierigen Verhältnissen aus Dortmund, Bochum, Lünen, einige wohnen in Jugendhilfeeinrichtungen, ein Mädchen ist früh Mutter geworden. 15 bis 17 Jahre alt sollen sie im Tatzeitraum gewesen sein und womöglich leichte Opfer für einen, der ihnen „Taschengeld“ versprach für sexuelle Handlungen. Mal 30, mal 50, mal 100 Euro sollen sie bekommen haben, meist zahlte der Mann, den man in Lünen für einen „tadellosen Kommunalpolitiker“ hielt, sofort.

Anklage: Geld für Sex, Nacktbilder an ein zwölfjähriges Kind

50 Euro soll ein Jugendlicher bekommen haben für Oralsex auf der Rückbank des Autos, Beträge ab 15 Euro erhielten zwei Mädchen für Nacktbilder, 60 Euro plus 10 Euro Trinkgeld gab es für Sex auf dem Parkplatz einer Gesamtschule. Häufig soll der Geschlechtsverkehr in der Wohnung des Beschuldigten stattgefunden haben, dann mit einer dreistelligen Summe bezahlt. Als Treffpunkt wird immer wieder der Bahnhof Bochum-Wattenscheid genannt.

Sagt am zweiten Prozesstag aus: Der angeklagte frühere Vize-Bürgermeister von Lünen, Daniel Wolski (r.), mit seinem Rechtsbeistand Edgar Fiebig beim Prozessauftakt in Bochum.
Sagt am zweiten Prozesstag aus: Der angeklagte frühere Vize-Bürgermeister von Lünen, Daniel Wolski (r.), mit seinem Rechtsbeistand Edgar Fiebig beim Prozessauftakt in Bochum. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

Dass die Opfer minderjährig waren, hat Wolski laut Anklage gewusst. Nicht nur, weil eines der ersten Opfer ihm vor dem ersten Treffen schrieb: „Erschrecken Sie sich nicht, ich bin 15.“ Er soll vielmehr konkret danach gesucht haben: Auf seinen Rechnern und dem Telefon fanden die Ermittler offenbar Bildersuchen mit den Suchworten „sehr jung“, „Gruppensex“, und „Porn“ sowie entsprechende Dateien, die Kinder in sexualisierten Posen zeigen. „Männliche und weibliche Kleinstkinder“ zählt der Staatsanwalt auf, nackt und mit dem Fokus auf den Geschlechtsteilen, Sex unter Jugendlichen, immer wieder kommen entblößte Kinder im Alter von „maximal“ eineinhalb, drei oder zehn Jahren vor, an denen sich Erwachsene vergehen.

Geständnis könnte Jugendlichen die Aussage vor Gericht ersparen

Den Chatverlauf mit einem zwölfjährigen Kind liest der Ankläger vor. Mit allen Daten zwischen Januar 2019 und August 2020, mit allen deftigen Einzelheiten, die sich der fremde Mann „in Kenntnis des kindlichen Alters“ wünschte. Immer wieder verlangt er mindestens „Tittenbilder“, malt Oralsex in schillerndsten Farben aus, verabredet sich. Das Kind versetzt ihn wieder und wieder, kommt auch nicht, wie vorgeschlagen, zu einem Juso-Treffen. Für das Publikum ist das schwer zu ertragen, die Details machen allzu deutlich, was die Ankläger mit „stark sexualisiertem Chat“ meinen.

Das alles noch einmal erzählen zu müssen, macht den mutmaßlichen Opfern Angst. Ein Nebenkläger spricht am Rande des Prozesses von der Sorge einer damals 15-Jährigen, aussagen zu müssen. Die junge Frau sei „traumatisiert“, sie habe das Geschehen noch lange nicht verarbeitet. Ob das Gericht die Zeuginnen wirklich vorlädt, ist offen. Einige wurden bereits von der Polizei per Video vernommen, den anderen könnte der Angeklagte den Auftritt vor Gericht ersparen, wenn er gesteht.

Das Rathaus der Stadt Lünen: Hier war der Angeklagte bis zu seinem Rücktritt im Herbst 1. Stellvertretender Bürgermeister.
Das Rathaus der Stadt Lünen: Hier war der Angeklagte bis zu seinem Rücktritt im Herbst 1. Stellvertretender Bürgermeister. © picture alliance / imageBROKER | Thomas Robbin

Verteidiger: „Mein Mandant ist ein geständiger Angeklagter“

Die geplante Einlassung ist wegen einer Erkrankung einer Verteidigerin auf den zweiten Prozesstag verschoben worden. Sein Mandant, sagt Rechtsanwaltskollege Edgar Fiebig am Vortag dieser Zeitung, sei „ein geständiger Angeklagter“, man werde sich „vollumfänglich einlassen“. Das würde bedeuten, dass Wolski alle Vorwürfe einräumt. Man wolle „ein gutes Ende im Sinne des Opferschutzes“, sagt der Verteidiger. Die Opfer seien „so weit wie möglich zu schonen, wir wollen sie schützen“. Der Angeklagte neben ihm nickt bei jedem Wort. Die Frage des Staatsanwalts nach seiner sexuellen Orientierung oder nach früheren Beziehungen beantwortet er nicht.

Auf dem Flur verdrückt eine junge Frau ein paar Tränen. Fassungslos hat sie die Anklage mit angehört, „eklig“ findet sie, was sie hören musste. Und ist doch froh, es zu hören: was ihr erspart wurde. Sie sei knapp „verschont“ geblieben, erzählt die angehende Erzieherin, auch bei ihr habe der Angeklagte „es versucht“. Kopien seiner Anwerbe-Versuche trägt sie auf ihrem Handy bei sich, sie habe sie auch zur Polizei gebracht. „Ich war 15!“ Als Zeugin geladen ist sie bislang nicht. Dennoch wollte sie kommen – und sehen, ob der Mann Reue zeigt. Und nun verurteilt wird.

>>HINTERGRUND: ERMITTLUNGEN AUCH GEGEN LÜNENS BÜRGERMEISTER

Lünens Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns glaubte zunächst an eine „perfide Verleumdungskampagne“, als ihn im Frühjahr vergangenen Jahres ein anonymer Hinweis erreichte. Doch aus dem Verdacht wurde ein Jahr später die Anklage: Sein inzwischen zurückgetretener 1. Stellvertreter an der Stadtspitze von Lünen, Daniel Wolski (41), sitzt seit Oktober in Haft. Weil er ihn zunächst geschützt haben soll, ermittelt die Staatsanwaltschaft Dortmund gegen das Stadtoberhaupt.

Fast zehn Jahre war Wolski Ratsherr im Ehrenamt, setzte sich auch als Juso ein für Sicherheit und Städtebau, gab sich in Sprechstunden und bei Bürgertreffs volksnah. Kleine-Frauns nahm die Anschuldigen damals nicht ernst: Er verschob die Mail in den virtuellen Papierkorb und schickte eine Kopie an den SPD-Mann. Ihm seien, erklärte Kleine-Frauns auf politischen und medialen Druck im Dezember, „die Vorwürfe gegen meinen Vertreter völlig absurd erschienen“. Deshalb habe er den Inhalt für frei erfunden gehalten und „als Schmutzkampagne schlichtweg abgehakt“.

Auch er sieht sich staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegenüber: Lünens hauptamtlicher Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns soll seinen Stellvertreter über eine anonyme Beschuldigung informiert haben.
Auch er sieht sich staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegenüber: Lünens hauptamtlicher Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns soll seinen Stellvertreter über eine anonyme Beschuldigung informiert haben. © Stadt Lünen | Stadt Lünen

Lüner Stadtspitze erschienen Missbrauchs-Vorwürfe „völlig absurd“

Das Vorgehen brachte dem Bürgermeister selbst erheblichen Ärger: Ermittelt wird gegen ihn wegen des Vorwurfs der „versuchten Strafvereitelung und der Weitergabe von Dienstgeheimnissen“. Abgeschlossen ist das Verfahren bislang nicht. Kleine-Frauns hat Mitwirkung versprochen, wehrte sich aber öffentlich: Die Staatsanwaltschaft sei „mit mehreren Beamten regelrecht in mein Büro gestürmt“, eines derart massiven Auftretens habe es nicht bedurft. Er sei sich „wie ein Schwerverbrecher“ vorgekommen. „Und das bin ich nun wirklich nicht.“

Kleine-Frauns gestand, er habe nicht „ansatzweise ahnen“ können, dass die Vorwürfe „möglicherweise nicht ohne Grund erhoben worden sind“. Ins Rollen gekommen waren die Ermittlungen gegen Wolski Ende 2022, als eine betroffene Jugendliche bei der Bochumer Polizei Anzeige erstattete. Die 16-Jährige soll den Vize-Bürgermeister über eine Dating-Plattform kennengelernt haben. Inzwischen kennt die Staatsanwaltschaft weitere mutmaßliche Opfer, fünf werden im Prozess als Nebenkläger durch Rechtsanwälte vertreten. Der Haftbefehl wurde bei einem Prüfungstermin im Januar unter anderem wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr aufrechterhalten.

Für den Prozess vor der 3. großen Strafkammer des Bochumer Landgerichts sind nach dem Start bis Ende April zunächst weitere sieben Prozesstage angesetzt. Ob die Opfer aussagen müssen, hängt von der Aussage des Angeklagten ab. Einige sind allerdings bereits per Video vernommen worden.