Dortmund. In vielen Städten gibt es - auch über Ostern - keinen echten Tierarzt-Notdienst mehr. Und wo einer ist, kann es teuer werden.
Das Drama beginnt kurz vor Mitternacht. Da der Kater von Marion B. plötzlich zu schreien, rennt unaufhörlich durch die Wohnung in der Nähe von Dortmund und lässt sich kaum noch anfassen. „Wir haben sofort gemerkt, dass da etwas ganz und gar nicht stimmt“, sagt die 58-Jährige.
Hilfe ist 50 Kilometer entfernt
Verzweifelt suchen sie und ihr Mann nach einem tierärztlichen Notdienst in der Nähe. Erfolglos. Nur zwei Tierkliniken in 50 bzw. 60 Kilometer Entfernung haben geöffnet. Bis das Ehepaar da ist, kommt jede Hilfe für ihre Katze zu spät. Keine schnell erreichbare Hilfe für das Tier im Haus, „das kannte ich von früher nicht“, sagt B.
Das gab es früher auch nicht. Doch allein zwischen 2011 und 2021 hat sich die Zahl der Tierkliniken – also der Praxen, die in bestimmter Personalstärke rund um die Uhr geöffnet haben – von 287 auf 157 fast halbiert. „Wir haben bereits heute in einigen Gegenden eine dramatische Unterversorgung im Notdienstbereich“, bestätigt Ralf Unna, Tierarzt in Köln und Vizepräsident des Landestierschutzverbandes NRW.
Die Gründe für die Misere sind vielfältig. Immer mehr der rund 12.000 niedergelassenen Tierärzte in Deutschland kommen ins Rentenalter und suchen Nachfolger. Aber sie finden keine. Rund 1200 Studierende, die überwiegende Zahl davon weiblich, gehen jedes Jahr von den fünf tiermedizinischen Fakultäten in Deutschland ab. Doch längst nicht jeder von ihnen beantragt die Approbation.
Und noch weniger streben nach einer eigenen Praxis. Denn wo selbstständige Tierärzte früher weitgehend klaglos 60 bis 70 Stunden die Woche abrissen, ist heute von Teilzeit und Work-Life-Balance die Rede. Regelmäßig nachts oder am Wochenende zu arbeiten, kommt nicht mehr in Frage. Zudem scheuen viele junge Ärzte das hohe finanzielle Risiko. „Die jüngere Generation hat nicht mehr den Hang zur Selbständigkeit“, weiß Unna.
Schwedische Unternehmen kaufen Praxen und Kliniken auf
Findet ein Tierarzt keinen Nachfolger, stehen meist schon große Konzerne in den Startlöchern - mit viel Geld im Hintergrund und attraktiven Konditionen zur Übernahme der Klinik oder Praxis und diversen Teilzeitmodellen für die Mitarbeiter. Zwei schwedische Unternehmen sind in Deutschland mittlerweile führend - Anicura (76 Standorte in Deutschland) und Evidensia (über 60 Standorte). Während letzteres zum Nestlé-Konzern gehört, steht hinter Anicura der US-amerikanische Nahrungsmittelkonzern Mars. Wer nicht zumindest von einem der beiden ein lukratives Angebot für seine Praxis oder Klinik bekommen hat, heißt es in der Branche, der hat irgendetwas falsch gemacht.
Viele freie Tierärzte sehen die Entwicklung mit Sorge. Fachlich, sagen sie, könnten sie nichts Schlechtes über die Kollegen sagen. Und technisch seien die Ketten-Kliniken dank der finanzkräftigen Konzernmütter auch auf dem neuesten Stand. Genau da aber könne das Problem liegen, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Denn wo ein mehrere Hunderttausend Euro teurer Computer-Tomograph stehe, müsse er sich auch rentieren. Gerade im Notdienst sei die Versuchung deshalb groß, Hund oder Katze schnell mal durch CT oder MRT zu schieben, statt einfach Röntgenbilder zu machen. Das ist nicht verboten, aber oft nicht geboten – zumal der preisliche Unterschied hoch ist.
Unabhängig von der Eigentümerschaft könne jede Tierarztpraxis und jede Tierklinik auf Dauer nur bestehen, wenn sie wirtschaftlich arbeite, heißt es auf Anfrage bei Anicura. „Nur mit hoher Qualität in der Behandlung, in der technischen Ausstattung, in der Aus- und Weiterbildung von Personal kann Anicura seinem Versorgungsauftrag gerecht werden“, erklärt das Unternehmen. Im Mittelpunkt aller Aktivitäten stehe immer nur eines, das „Tierwohl“.
Immerhin: Anders als zum Beispiel in Skandinavien oder Großbritannien, wo die Preise für die Behandlung von Vierbeinern teilweise viermal so hoch sind wie in Deutschland, müssen sich Tierärzte zwischen Kiel und Konstanz an die Gebührenordnung ihres Berufsstandes halten. Aber auch nach der kann eine Klinik ohne nähere Begründung sowohl zum einfachen als auch zum dreifachen Satz abrechnen. „Raten Sie mal, welchen Satz die großen Kliniken nehmen“, sagt ein Tierarzt aus dem Ruhrgebiet, der ungenannt bleiben möchte.
Notdienstpflicht für Tierärzte soll eingeführt werden
Eine Notdienstpflicht gibt es in NRW – anders als in anderen Bundesländern – derzeit nicht. Doch das soll sich ändern. Ein entsprechender Gesetzentwurf ist kürzlich im Landtag beschlossen worden und soll bereits in Kürze in Kraft treten. Dass sie von kleineren Praxen auch umgesetzt werden kann, bezweifeln Branchenkenner allerdings.
In einigen Städten des Ruhrgebietes gibt es bereits jetzt freiwillige Notdienstringe und auch einzelne Tierärzte, die ihre Öffnungszeiten verlängert haben, ohne gleich in den 24-Stunden-Betrieb zu gehen. Moritz Ostermann ist einer davon. Vor einem Jahr ist er in Dortmund der Praxis seines Vaters beigetreten. Statt wie früher am frühen Abend zu schließen, ist sie nun bis 23 Uhr geöffnet und auch am Wochenende gibt es Hilfe. „Der Bedarf ist riesengroß“, berichtet der 29-Jährige. Immer aber können Ostermann und sein Team auch nicht helfen. „Es gibt Fälle, die müssen wir in eine große Tierklinik schicken.“
Experten raten: Versicherung abschließen
Dort wird es oft richtig teuer. Können sich weniger gut verdienende Menschen also bald kein Haustier mehr leisten? Doch, sagt Unna, rät aber zu einer Krankenversicherung. Die müsse kein Rundum-Sorglos-Paket sein, nicht jede Durchfallbehandlung erstatten. Aber bei Tumoren oder gebrochenen Beinen, warnt Unna, „da gerät man schnell in den mittleren vierstelligen Bereich“.