Essen. Bislang wird der 3. RAF-Generation die Schuld an einer Mordserie in den 80ern gegeben. Ein Ex-Verfassungsschützer schürt daran Zweifel. Zu recht?
Am Pfingstsamstag 2023 drucken mehrere überregionale Zeitungen eine kleine, aber bemerkenswerte Traueranzeige. Darin wird des Terroristen und Doppelmörders Rolf Heißler gedacht, der am 18. Mai 75-jährig in Offenbach gestorben war. Er habe „eine lange politische Geschichte“ gehabt, heißt es im Text, „angefangen mit der Studentenbewegung in München, nach 1975 in der RAF, dann über 20 Jahre Knast“. Als letzter Gruß die Worte: „In dieser Geschichte waren wir verbunden. Von jetzt an wird er immer fehlen“. Unterschrieben ist die Anzeige von „Weggefährt:innen und Gefährten aus allen Zeiten“. Abgetauchte, nie gefasste und aus der Haft entlassene Mitglieder der Terrororganisation Rote Armee Fraktion, die zwischen 1970 und 1998 insgesamt 33 Morde begangen haben soll, basteln gerne an solchem Mythos: Wir sind, irgendwie und irgendwo, noch da.
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Doch stimmt das? Oder existiert die geheimnisvolle sogenannte dritte Generation der RAF überhaupt nicht; oder zumindest nicht in der Form, wie das bisher viele Experten glauben?
Lothar Dahlke bezweifelt nicht wenige vermeintliche Fakten über die RAF und deren Morde. Er leitete zu RAF-Zeiten die Terrorabwehr im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz. Nach längerem Ruhestand ist er 2019 gestorben. Zuvor schrieb er mit Co-Autor Wilhelm Dietl ein Buch, das jetzt im Memoir Verlag erschien: „Deckname L.“ Die Kernbotschaft erzählt einen wichtigen Abschnitt der deutschen Terror-Geschichte neu. „Eine dritte Generation der RAF hat nie existiert und ist vor allen Dingen nicht verantwortlich für die Morde der 1980er- und 1990er-Jahre, auch wenn diese unter dem Label RAF durchgeführt wurden“.
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„Wir stecken in der Sackgasse“
Wer aber hat dann Siemens-Vorstand Karl-Heinz Beckurts und seinen Fahrer Eckhard Groppler getötet? Wer tötete die Manager Alfred Herrhausen (Deutsche Bank), Detlev Karsten Rohwedder (Treuhand) oder den Diplomaten Gerold von Braunmühl? Wer war verantwortlich für die gescheiterten Anschläge gegen Staatssekretär Neusel und Bundesbankchef Tietmeyer? Wer sprengte die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt in die Luft? Und welches Trio tourte, zuletzt 2016, als „RAF-Rentner“ durchs Land und überfiel Geldtransporter und Banken von Duisburg über Wattenscheid bis Cremlingen bei Braunschweig? Dazu weiß niemand Belastbares.
„Wir stecken in der Sackgasse“, hat der über viele Jahre für die Fahndung verantwortliche Bundesanwalt Rainer Griesbaum eingestanden. Auch Lothar Dahlke ist in seinem Buch vorsichtig mit Antworten auf die offenen Fragen. Aber seine Geschichte gibt interne Erkenntnisse der Behörde wider. Danach beendete die RAF schon 1982 die Serie geplanter Verbrechen – fünf Jahre nach der Schleyer-Entführung und dem Selbstmord von Andreas Baader und Gudrun Ensslin und 16 Jahre vor ihrem im Juni 1998 offiziell erklärten Ende. Der Auslöser dafür war die Festnahme der Baader/Ensslin-Nachfolger Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt, als diese ihre Waffendepots leeren wollten.
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Dem Totalausfall der RAF-Führungscrew folgte, so die Information im Kölner Amt, innerhalb der gesamten linksextremistischen Szene eine große Auseinandersetzung über die künftige Ausrichtung. Die wenigen verbliebenen RAF-Mitglieder scheiterten mit dem Plan, eine neue „westeuropäische Front“ unter ihrer Regie aufzubauen. Ihr Bombenattentat auf die amerikanische Rhein-Main-Airbase im August 1985 mit drei Toten spitzte den Streit zur „Generalabrechnung“ zu. Danach war der Weg frei für die Taten einer ganz anderen und bisher kaum zur Kenntnis genommenen Gruppe.
Im Bundesamt für Verfassungsschutz firmierte sie als „Anti-imperialistischer Widerstand“, kurz AIW. Aus Gründen der Solidarität konnten alte RAF-Leute bei AIW-Aktionen mitmischen – darunter der 1993 beim Festnahmeversuch in Bad Kleinen durch Suizid aus dem Leben geschiedene Wolfgang Grams oder die zum Umfeld gehörenden Bankräuber Ernst-Volker Staub, Burkhard Garweg und Daniela Klette, die in der Geschichtsschreibung bisher der „dritten RAF-Generation“ zugeordnet wurden. Auch Bekennerschreiben liefen weiter unter dem Signet „RAF“.
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Die Struktur aber war nun internationaler angelegt. Geheimdienste mischten eng mit, so die DDR-Staatssicherheit. Weitgehend ferngelenkt wurde der Terror der „Mix-Teams“ (Dahlke) aus dem Nahen Osten, wo der extremistische Palästinenserflügel der PFLP mit iranischer Unterstützung eine neue, weltweite Kampflinie aufbaute. Terroristen aus Deutschland wurden in Nahost militärisch ausgebildet. Politisches Ziel wurde die Unterstützung von „Befreiungsbewegungen“ weltweit, von Südafrika bis Lateinamerika, vor allem im arabischen Raum.
In seinem Buch gibt Ex-Verfassungsschützer Dahlke Hinweise auf zahlreiche internationale Terroristenkonferenzen, in denen in jenen Jahren Offensiven vorbereitet wurden. Er nennt Namen, die seine Behörde dem deutschen AIW zurechnete. Thomas Simon, Christoph Seidler, Horst und Barbara Meyer sind darunter. Die heute noch vom Landeskriminalamt in Hannover gesuchten Bankräuber Staub, Klette und Garweg seien Anfang 1990 „Hardcore-Militante aus dem AiW“ gewesen und zu Kadern gehörig, „die zum Teil eine militärische Ausbildung im Libanon“ erhalten hätten. Aus der Region seien Waffen und moderne Tötungstechnologien zugeliefert worden.
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Auch die Sprengfalle, in die am 30. September 1989 Alfred Herrhausen, Chef der Deutschen Bank, mit seinem gepanzerten Auto fuhr? Die ausgefeilte Technik bei diesem Anschlag ist bis heute Anlass für allerlei Spekulationen. So will die US-Autorin Catherine Belton von früheren RAFlern erfahren haben, dass der damalige Dresdner KGB-Resident Wladimir Putin den Mordbefehl gegeben haben könnte.
Der Mord an Rohwedder in Düsseldorf
Dahlkes Darstellung hingegen führt auf eine andere Spur: die libanesische Hisbollah. Sprengsätze gleichen Musters hätten 1991, nur acht Tage vor dem Anschlag auf Herrhausen, Libanons christlichen Präsidenten Rene Moawad getötet und im Irak-Krieg nach 2002 Hunderte von US-Soldaten in ihren gepanzerten Fahrzeugen. Mit US-Kollegen sei er Anfang der 90er-Jahre einig gewesen, dass die Hisbollah „zumindest bei der Auswahl oder Herstellung oder Training dieser spezifischen Sprengsätze eine prägende Rolle gespielt haben musste“.
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„Es sprach alles dafür, dass hier ein Mixed- oder vielleicht sogar ein reines AIW-Team die Kommandoaktion durchgeführt, diese Operation mehrere Monate lang in palästinensischen Lagern trainiert und probeweise sogar bei einem Testanschlag in Wien ein halbes Jahr zuvor durchgespielt hatte“, ist Dahlke überzeugt. Eineinhalb Jahre nach dem Mord an Herrhausen, am Ostermontag 1991, erschossen Unbekannte Treuhand-Chef Detlev-Karsten Rohwedder in seiner Wohnung in Düsseldorf. Die Tat gilt als der letzte gezielte Mord der RAF. Doch auch das bezweifelt Dahlke in seinem Buch. Er schließt eine „völlig eigenständige Auftragsarbeit unter dem Label RAF“, also unter falscher Flagge, nicht aus.
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