Hagen. Welche Bedeutung hat ein seltsames Kürzel, das das Opfer aus dem Siegerland wenige Stunden vor seinem Tod aufschrieb?
Am späten 25. Oktober 1984 verhält sich Günther Stoll aus Anzhausen im Siegerland merkwürdig am Abendbrottisch. Wie öfter zuletzt. Der 34-jährige denkt viel nach, er habe „richtig Angst“, sagt er zu seiner Frau, mit der er eine kleine Tochter hat. Er wird von bösen, für andere unerklärlichen Vorahnungen geplagt: „Die wollen mir was antun. Die bringen mich um.“ Seine Frau bedrängt ihn: Was ist bloß? Wer will dich umbringen? Antworten erhält sie nicht.
Der Abend. Was in den nächsten Stunden passiert, wird die Kriminalpolizei im 100 Kilometer nördlich gelegenen Hagen bis heute beschäftigen. Günther Stoll unterbricht plötzlich die Unterhaltung mit seiner Frau: „Mir geht ein Licht auf.“ Er nimmt sich einen Zettel, notiert sechs Großbuchstaben aufs Papier: YOG’TZE. Dann streicht er die Notiz gleich wieder durch. Gegen 23 Uhr verlässt er die gemeinsame Wohnung. Er will in seiner Stammkneipe im benachbarten Wilnsdorf die trüben Gedanken mit einem Glas Bier vertreiben. Bleib nicht so lange, sagt seine Frau. Aber die Angst, die ihn ergriffen hat, wird nicht verschwinden. Der Familienvater Günther Stoll wird nicht mehr nach Anzhausen zurückkehren. Er hat nur noch kurze Zeit zu leben.
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TV-Fahndung bei „XY ungelöst“
Es gibt Kriminalfälle, die gehen selbst routinierten Fahndern an die Nerven, weil das Pack-Ende zur Lösung trotz aller Suche auch nach mehr als drei oder vier Jahrzehnten Ermittlungsarbeit nicht zu finden ist. Dieser Fall ist so einer. Sie möchten im Hagener Präsidium nicht mehr so gerne reden über diese kriminalistische Altlast. Aber natürlich ist die Akte Stoll noch ein Thema. Mord verjährt nicht, besonders, wenn der damalige „XY ungelöst“-Moderator Eduard Zimmermann ein halbes Jahr nach der Tat in einer detailreichen ZDF-Dokumentation festgestellt hat: Alles sei „undurchsichtig“. Ermittler und Kriminaltechniker haben zwar eine grobe Vorstellung davon, wie die Gewalttat abgelaufen sein könnte. Aber wo genau, wer der oder die unbekannten Täter sind, aus welchem Milieu sie stammen, aus welchem Motiv sie getötet haben? All das ist auch heute noch ein Rätsel.
Vor allem: Die sechs Buchstaben, wohl getrennt durch Apostroph, werfen Fragen auf. Was bedeutet YOGTZE? In was war Günter Stoll verwickelt, welche Vorgeschichte hatte dieser Mann wirklich – Stolls gewaltsamer Tod könnte einer der mysteriösesten Vorgänge der deutschen Kriminalgeschichte sein, die Nachtstunden im Herbst des Jahres 1984 Stoff für einen Thriller.
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„Heute Nacht passiert noch was“
Zwischen 23 und 24 Uhr an diesem 25. Oktober betritt Günther Stoll das „Papillon“ in Wilnsdorf, setzt sich auf einen Hocker an der Theke. Er bestellt das Bier, von dem er sich vielleicht ein bisschen Vergessen erhofft. Bevor er den ersten Schluck nehmen kann, fällt er unvermittelt nach hinten auf den Boden. Beim Aufprall verletzt er sich das Gesicht. Einen Moment lang ist er bewusstlos. Andere Gäste helfen ihm auf die Beine. Hat er getrunken?, fragen sie ihn: „Nein. Ich war plötzlich weg.“ Nach einem vom Wirt spendierten Schnaps und einem Orangensaft verlässt er die Gaststätte. Er startet seinen 50 PS starken blauen VW Golf Baujahr 78 mit Siegener Kennzeichen und fährt davon.
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Die Nacht. Freitag, 26. Oktober , gegen ein Uhr früh. Bei Erna Hellfritz, die Stoll in seinem Geburtsort Haiger-Seelbach von früher kennt, schellt es an der Tür. Die Rentnerin wacht auf und geht zu ihrem Schlafzimmerfenster. Unten sieht sie Stoll stehen. „Günther, du?“ Ihr Eindruck: Der Mann ist reichlich verstört. „Heute Nacht passiert noch was. Was ganz Fürchterliches“, sagt er. Hellfritz hält das für wirres Zeug. Er solle zur Frau nach Hause fahren. Stoll verspricht, er werde das machen.
Drei Uhr am Morgen. Die Autobahn A 45 ist eine der meist befahrenen Lkw-Routen in der alten Bundesrepublik. Die Sauerlandlinie verbindet Süddeutschland und das Rhein-Main-Gebiet mit dem östlichen Ruhrgebiet. In dieser Nacht sind zwei Trucker mit ihren Fahrzeugen nordwärts auf dem Weg nach Dortmund. M., der Fahrer des voranfahrenden Lastzugs, erkennt aus seinem Cockpit einen demolierten blauen VW Golf, der im Graben kurz vor der Ausfahrt Hagen-Süd quer zur Fahrbahn liegt. Er sieht eine Person, die um das Unfallauto herumschleicht. Er stoppt seinen Laster. Der Kollege hält hinter ihm auf dem Seitenstreifen an. Beide gehen zum Wrack. Sie erschreckt, was sie sehen: Auf dem Beifahrersitz des Golf liegt ein blutverschmierter, mit Laubresten bedeckter nackter Mann. Sein Arm ist fast abgerissen. Die Kleidung liegt neben ihm.
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Der Motor des Golf, der auf Günther Stoll zugelassen ist, ist kalt. Den Zündschlüssel finden die Lkw-Fahrer auf der Hutablage. Der Schwerverletzte ist Günther Stoll. „Es waren vier“, stöhnt er noch, dann: „Schöne Freunde“, dann „Ich will weg“. Im Notarztwagen, auf dem Weg ins Krankenhaus, stirbt er.
Die Tatort-Analyse. Die Hagener Kripo ermittelt. Schnell ist ihr klar: Stoll ist kein Unfallopfer, der sein Auto in den Graben gesetzt hat und zuvor 50 Meter Büsche abräumte. Das ergibt das Gutachten der Kriminaltechnik eindeutig. „Keine der am Fahrzeug vorgefundenen Einwirkungen lässt sich mit einer Verletzung der aufgefundenen Person innerhalb des Fahrzeugs und beim Kontakt des Fahrzeugs mit der Baum- und Gebüschkulisse koordinieren“, heißt es in dem Papier. Dann der entscheidende Satz: „ Es sind alle typischen Verletzungen vorhanden, wie sie beim Überrollen durch ein anderes Fahrzeug aufgebracht werden.“ Stoll ist in unbekleidetem Zustand von einem fremden Auto überfahren worden. Unbekannte haben ihn dann in sein eigenes Fahrzeug auf den Beifahrersitz geladen und vom Tatort zum Fundort bei der Abfahrt Hagen-Süd gebracht.
Also: Geplanter Mord? Hatte die unbekannte Person etwas damit zu tun, die die Lkw-Fahrer M. und K. am Fahrzeug gesehen haben wollen? Das ist heute genau so mysteriös wie ein durch mehrere Zeugen unabhängig voneinander erwähnter Anhalter auf der Seite der Fahrtrichtung Frankfurt, der zur Fundzeit dort unterwegs war und durch einen Blutfleck am Oberarm auffiel. Vielleicht war es der Mann, den der Lkw-Fahrer gesehen hat. Merkwürdig auch: Später rief ein Unbekannter die Polizei an, ohne seinen Namen zu sagen. Er sei dieser Mann. Dann legte er auf. Die Fahnder gehen möglichen Spuren nach. Die Ermittlungen ziehen sich hin.
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Mysteriöse Fahrzeuge. Nachbarn und Stolls Ehefrau in Anzhausen bestätigen: In den Monaten vor der Todesnacht wurden immer wieder fremde Autos vor der Haustür gesichtet, immer auch mit dem Kennzeichen HA für Hagen. Einmal wurde das Ehepaar in Siegen aus einem Fahrzeug heraus fotografiert. Eine Szene wie in einem Spionagefilm. Aber in Hagen sind rund 85.000 Fahrzeuge gemeldet. Die Recherche ist bei dieser Kenntnislage aussichtslos.
Die Niederlande. Drogen und die Niederlande – das ist Mitte der 80er-Jahre ein kriminalpolitisches Mega-Thema. Es bereitet auch der deutschen Polizei viel Arbeit. Allein Amsterdam meldet 1984 50 Rauschgift-Tote, 17 davon aus Deutschland. 1000 der geschätzt 10.000 Junkies der Stadt stammen aus der Bundesrepublik. Der Grenzverkehr hat sich zu einem illegalen Handelsplatz entwickelt. Könnte Stoll Drähte in die niederländischen Drogenszene gehabt haben? Könnte er Dealerbossen in die Quere gekommen sein?
„Das Wort gibt es in keiner Sprache“
Keine unbegründete Mutmaßung: Die Hagener Ermittler haben tatsächlich von solchen Begegnungen in den letzten Urlauben des Opfers erfahren. „Er hat Menschen kennengelernt, die auf diesem Gebiet eine Vergangenheit haben“, hat die Polizei herausgefunden. Die deutschen Fahnder fahren nach Amsterdam. Sie vernehmen Zeugen und beschlagnahmen Fahrzeuge. Nichts.
Die Buchstaben. Bleiben die sechs Großbuchstaben. YOGTZE. oder YOG’TZE. Ein Ort? Ein Eigenname? Ein unverständlicher Code? Als zusammenhängendes Wort gibt es das in keiner Sprache der Welt. Auch der Zettel mit der geheimnisvollen Notiz, die Günther Stoll vor dem Verlassen seiner Wohnung aufgeschrieben haben soll, existiert nicht mehr. Stolls Frau, die der Kripo erst nach einem halben Jahr über die Existenz des Zettels berichtet, will ihn weggeworfen haben.
170 Hinweise gehen nach der „XY“-Fernsehfahndung ein. Kann es, wenn das „G“ in der Wortmitte als „6“ gelesen würde, ein Funkrufkennzeichen mit YO für Rumänien gewesen sein, wie eine Interpretation lautet? Wenn nicht, könnte, andererseits, der Lebensmittelexperte Stoll darin eine Verbindung zu einem Yoghurt-Produkt gelesen haben, das eine unbekannte Rolle spielte? Ist er in irgendwelche Machenschaften mit Lebensmitteln verwickelt? Oder aber: Gab es den Zettel überhaupt? Könnte er ein Irrtum der Ehefrau gewesen sein, eine falsche Erinnerung, die Überbewertung eines unbedeutenden Details?
Drei Jahrzehnte später. Die im zerstörten Auto gefundenen Fasern und Gegenstände sind 2016 noch einmal Untersuchungen unterzogen worden, die dabei sichergestellte DNA wurde mit neuen Methoden überprüft. Ohne neue Erkenntnisse. Danach zog Ulrich Hanki von der Polizei in Hagen erneut Bilanz: „Sehr seltsam“ sei alles, „es gibt keinerlei Hinweis auf ein Motiv“. Und zu der vermeintlichen YOGTZE-Spur: „Das Wort gibt es in keiner Sprache.“ 3000 D-Mark wurden 1984 als Belohnung ausgesetzt. Sie wurden nicht ausgezahlt. 1200 Spuren wurden verfolgt. Man fand keine weiteren Ermittlungsansätze. Der Fall des Günther Stoll bleibt ein Cold Case.
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