Ruhrgebiet. Wer will noch Busse fahren? In einigen Ruhrgebietsstädten läuft der Nahverkehr schon im Notfahrplan. Warum dem ÖPNV die Leute ausgehen

Der Sohn von Kerstin Göthert hat jetzt immer nullte Stunde. Sie beginnt um 7.12 Uhr, wenn er aus dem Bus steigt, und geht bis fast acht Uhr. Freilich lernt der 14-Jährige aus Datteln-Horneburg in der frühen Stunde nichts, er schlägt vielmehr auf dem Schulhof Zeit tot. Zusammen mit 30 anderen Kindern. Sie kommen aus einem Internat. Elterliche Fahrgemeinschaft ist also nicht.

Der Grund für Stunde 0: Der Bus ist gestrichen, der sie bisher kurz vor acht zum Gymnasium in Oer-Erkenschwick brachte. Sie müssen jetzt den um 7.04 Uhr nehmen. Viel zu früh! Und nach der sechsten Stunde warten sie auch wieder so lange auf die Rückfahrt. „Uns würde ja ein einziger Einsatzwagen reichen“, sagt Kerstin Göthert. Doch den gibt es nicht. Und sie: arbeitet.

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Der Bus ist gestrichen, weil beim Verkehrsbetrieb „Vestische“ im Kreis Recklinghausen und Bottrop ein neuer Notfahrplan regiert, auch wenn das Unternehmen selbst viel lieber von einem „Stabilisierungsfahrplan“ spricht. Dasselbe bei der Stoag in Oberhausen: Sie hat sich für „Fahrplan light“ entschieden. Aber die reine Mangelverwaltung ist es doch: Einige wenige Linien sind gestrichen, aber viele Takte ausgedünnt. „Uns schmerzt jede Fahrt, die wir nicht anbieten können“, sagt der Sprecher der Vestischen, Christoph van Bürk.

„Es fallen täglich Busse und Bahnen aus“

Die Notlage der beiden Revier-Betriebe erhellt die Sicht auf den deutschlandweiten, krassen Personalmangel im öffentlichen Nahverkehr. „Es fallen täglich Busse und Bahnen aus, weil es nicht genug Personal gibt“, sagt Christine Behle, die stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Verdi: „Wir haben einen dramatischen Mangel an Arbeitskräften und einen unglaublichen Druck auf die Beschäftigten.“ Auch darum geht es in dem heutigen, eintägigen, fast bundesweiten Warnstreik und der laufenden Tarifrunde: die Arbeitsbedingungen im Nahverkehr zu verbessern.

In den betreffenden Städten mit zusammen bald 950.000 Einwohnern sind nicht nur viele Kunden sauer, die Politik ist es auch, von der CDU in Oberhausen bis zur SPD in Waltrop („Ein Unding“). Doch gegen die Fakten kommen sie mit Verärgerung nicht an: Zum chronischen Personalmangel hat sich zuletzt ein hoher Krankenstand gesellt. Aber „die tiefere Ursache ist, dass die Personaldecke infolge des demografischen Wandels immer dünner wird“, sagt Harald Kraus vom „Verband Deutscher Verkehrsunternehmen“. Arbeitsdirektor beim Dortmunder Anbieter DSW21 ist er auch.

„Du hattest früher eine hohe Wertschätzung“

In der Regel gibt es alternative Verbindungen zu den gestrichenen Linien, die aber eventuell mit Umsteigen verbunden sind.
In der Regel gibt es alternative Verbindungen zu den gestrichenen Linien, die aber eventuell mit Umsteigen verbunden sind. © Oberhausen | Lars Fröhlich

Es ist ein Problem, mit dem alle kämpfen. Beispiel eben DSW21: „Auch wir müssen uns für jede Bewerbung mehr ins Zeug legen und kreativer werden“, sagt Sprecher Marc Wiegand. 2023 seien 150 Kollegen neu eingestellt worden: „Bis dato gelingt es uns, die offenen Stellen zu besetzen.“ Neben Tarifgehalt und unbefristetem Arbeitsvertrag gibt es hier „eigenes iPAD für dienstliche und private Nutzung“, „stark verbilligtes Deutschlandticket“ und „Sport- und Fitnessangebote“. Und die verhassten geteilten Dienste (mehrere Stunden Arbeit, mehrere Stunden frei, mehrere Stunden Arbeit) sind gestrichen.

Tatsächlich sind die Arbeitsbedingungen im Nahverkehr schwierig. Sonntags- und Nachtdienste. Wechselschicht, die je nach Linie täglich zu einer anderen Zeit beginnen kann. Ein Einstiegs-Grundgehalt von rund 3000 Euro brutto plus Zulagen. Und dann weiß man ja auch nicht immer, wer durch die Tür tritt: „Du hattest früher eine hohe Wertschätzung von Busfahrern und Busfahrerinnen, das ist weg“, sagt van Bürk von der Vestischen.

Niemand weiß, wann sie zurückkehren können zum regulären Fahrplan

So kommt es dann, dass Eltern sich überall im nördlichen Ruhrgebiet umorganisieren müssen, dass Ratsfraktionen offene Briefe schreiben und Kunden ihre Wut ins Internet kübeln. Stimmen wie diese (aus der Recklinghäuser Zeitung) sind gerade sehr, sehr selten: „Ich bin Rentner und kann mich auf die stündlichen Abfahrtzeiten einstellen, um zum Einkauf oder zum Arzt in die Stadt zu fahren.“

Es ist ja auch nicht so, dass Stoag und Vestische wahllos gestrichen hätten. „Für Fahrgäste gibt es in der Regel alternative Verbindungen, die eventuell mit einem Umstieg verbunden sind“, so Stoag-Sprecherin Sabine Müller. Seit August 2022 stellt die Stoag bereits verstärkt ein und lässt Leute aus der Verwaltung Bus fahren - sofern sie einen Busführerschein besitzen. Andere fahren Überstunden zusammen. Es ändert nichts an der Oberhausener Kuriosität, dass ein Verkehrsbetrieb empfiehlt, in der elektronischen Fahrplanauskunft keine Haltestelle einzugeben: sondern die Privatadresse, um eine Verbindung aus der Nähe angezeigt zu bekommen, die noch besteht.

80.000 Busfahrer und-fahrerinnen scheiden aus Altersgründen aus

Gemeinsam ist den Notfahrplänen diese Logik: „Wir wollten keine kurzfristigen Ausfälle einzelner Linien. Lieber ein paar Fahrten weniger anbieten, aber die verlässlich und planbar“, sagt van Bürk. Deshalb also: „Stabilisierungsfahrplan“. Ein erster galt im Kreis Recklinghausen schon seit April 1923. „Wir wollen am liebsten so schnell wie möglich zurück“ (zum regulären Fahrplan). Seine Kollegin Sabine Müller sagt es so: „Wenn sich die Personalsituation stabilisiert, planen wir, schrittweise zum regulären Fahrplan zurückzukehren.“

Allerdings liegt in der Logik der Sache, dass niemand weiß, wann das ist. Bis 2030 werden 80.000 Busfahrer und-fahrerinnen aus ganz normalen Altersgründen ausscheiden.