Bochum. Erstmals beteiligen sich fünf Städte aus dem Revier an der „Nuit du Cirque“, dem weltweiten Festival des Neuen Zirkus. Und es passiert noch mehr.

Mitten in der riesigen Fabrikhalle, zwischen Parkour-Hindernissen, Biker-Rampe und Trampolinen, stehen zwei verwaiste Sofas. Wer hier her kommt, will nicht ruhen – sondern: schaffen. Ein ehrgeiziges Pärchen versucht sich gerade an Hebetechniken; drei Jungs in schlabbrigen Hosen arbeiten an Flips, Twists und Kicks, neuen Tricking-Tricks; hinten im Raum, da wo noch die goldene Kulissen-Deko aus der Urbanatix-Jubiläumsshow lagern, wagt jemand einen Salto aus drei Meter Höhe in die Fallgrube. Vorn, im Bereich der Luftartisten hängt Leon Pufahl die „Strapaten“ unter die Decke, sein Arbeitsgerät. Willkommen im Open Space Bochum, dem Zentrum der Straßenartisten im Revier, einem typischen Hort der „Neuen Künste Ruhr“.

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Neue Künste Ruhr? Die „Urban Arts“, die von Rap bis Graffiti die Kunst auf der Straße umfassen, zählen dazu, zudem Elektronische Musik, Digitale Künste und der Zeitgenössische Zirkus. Und wo, wenn nicht hier im Revier, sollte man sie feiern, fragt das gleichnamige Netzwerk, das die unterschiedlichen Akteure verbindet? Dem Land liegen diese jungen Kunstformen jedenfalls am Herzen, als Dekadenprojekt der Ruhrkonferenz, fördert das Kultusministerium sie bis 2030. Allein in diesem Jahr fließen 1,5 Millionen Euro. Am Wochenende, wenn in der „Nuit du Cirque“ weltweit die Nacht zum (zeitgenössischen) Zirkus wird, sind deswegen erstmals gleich fünf Ruhrgebietsstädte dabei.

Der Neue Zirkus: ein noch junges Genre in Deutschland

Leon Pufahls Herz (und meist nicht nur das) hängt an den Strapaten. Er will die Luftakrobatik zu seinem Beruf machen, studiert Zirkuskunst in Brüssel. Im Bochumer Open Space fand er den Mut dazu.
Leon Pufahls Herz (und meist nicht nur das) hängt an den Strapaten. Er will die Luftakrobatik zu seinem Beruf machen, studiert Zirkuskunst in Brüssel. Im Bochumer Open Space fand er den Mut dazu. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Und was, bitte, ist das nun wieder: zeitgenössischer, neuer Zirkus? „Keiner, in dem man Tiere in der Manege sehen wird; keine Galashow in einem Varieté“, erklären Carolin Hensel-Lippold und Axel Hupertz vom Projektbüro Neuer Zirkus. „Der Neue Zirkus ist einer, der fesseln und berühren will; in dem Geschichten erzählt werden, der Artistik mit theatralen Elementen vermengt. Einer, in dem es auch mal um Klimawandel oder Gendern geht. Einer, in dem Leon Pufahl, der Strapatenkünstler, seine Zukunft sieht. „Der Wow-Moment, der wird bleiben, der gehört zu jeder Form von Zirkus“, versichert der 21-Jährige aus Bergkamen.

In Deutschland ist diese Art von Kunst ein noch junges Genre, doch in NRW sei man weiter als anderswo, versichert Hupertz. Das Projektbüro will den Neuen Zirkus als Kunstform im Ruhrgebiet dauerhaft etablieren - und sichtbar machen. Es ist Ansprechpartner für die Szene vor Ort, es vernetzt Akteure, begleitet Projekte, will die Idee auch den städtischen Kulturämtern und Theatern näher bringen. „Oft noch eine harte Nuss“, räumt Hupertz ein. „Dabei stirbt denen doch gerade das Publikum weg.“ Doch er vertraut darauf, dass es gelingen wird. Keine Region sei besser geeignet als das Ruhrgebiet, glaubt Hupertz. „Hier leben fünf Millionen Menschen aus 200 verschiedenen Nationen, hier gibt es unglaublich viele Talent, das Publikum ist divers und aufgeschlossen, hier traf schon immer Neues auf Altes.“ Im Übrigen: seien hier Mieten für Wohnen und Werkstätten moderater als anderswo, gebe es ungenutzte Räume...

Vorzeigeprojekt Open Space

Das Open Space in Bochum ist so etwas wie das Vorzeigeprojekt dieses Neuen Zirkus, Katalysator für die Entwicklung der modernden Bewegungskünste in NRW. Erwachsen ist es aus „Urbanatix“, jenem gewagten „Subkultur“-Projekt, das man im Kulturhauptstadtjahr Ruhr.2010 erst nicht wollte – und dessen Shows doch noch immer Jahr für Jahr Zehntausende begeistern, das längst über die Grenzen der Republik hinaus bekannt ist. Urbanatix-Erfinder Christian Eggert brachte erstmals ambitionierte Straßenkünstler aus dem Ruhrgebiet zusammen mit Profis der internationalen Szene auf die Bühne. Trainiert wurde ab 2015; im Open Space.

Axel Hupertz (l.) und Carolin Hensel-Lippold arbeiten im Projektbüro Neuer Zirkus Ruhr. Sie wollen den zeitgenössischen Zirkus im Ruhrgebiet etablieren. Denn hier gehört er hin, finden sie.
Axel Hupertz (l.) und Carolin Hensel-Lippold arbeiten im Projektbüro Neuer Zirkus Ruhr. Sie wollen den zeitgenössischen Zirkus im Ruhrgebiet etablieren. Denn hier gehört er hin, finden sie. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Damals wie heute ist die Halle an der Bessemer Straße offen für alle, Anfänger wie Stars, jeder lernt von jedem. An die 30 Mann und Frau trainieren hier im Schnitt täglich, oft sind es mehr als 70. „Im Open Space entstehen Perspektiven“, sagt Carolin Hensel-Lippold, „hier starten Karrieren.“ Allein in diesem Jahr seien nicht nur Leon Pufahl, sondern gleich drei Artisten aus dem Open Space an bekannte Zirkusschulen gegangen. „Und die nehmen wahrlich nicht jeden“, sagt Hensel-Lippold.

Dem Zirkus fehlt noch die Schule im Revier

Wer aus der Artistik tatsächlich seinen Beruf machen will, der muss Ruhrgebiet allerdings verlassen. Noch. Die Open-Space-Academy, das geplante „Berufskolleg für Artisten“ in Bochum, ist bislang kaum mehr als eine Idee, die es auf die Homepage der Stadt geschafft hat. „Aber wer weiß“, sagt Axel Hupertz, „in zehn Jahren vielleicht? Wir arbeiten dran.“

Infos, Öffnungszeiten und Trainingsmöglichkeiten unter www.openspace.ruhr

>>> INFO: Zeit für Zirkus

„Zeit für Zirkus“ ist ein bundesweites Festival für zeitgenössischen Zirkus und zugleich die deutsche Ausgabe der „Nuit du Cirque“, die in diesem Jahr zum dritten Mal gefeiert wird – vom 17. bis 19. November, in 13 verschiedenen Ländern. Spielstätten in Kanada oder Guadaloupe, in Taiwan oder den USA, in Burkina Faso, Frankreich, der Schweiz oder Portugal sind dabei. Erstmals beteiligen sich zudem gleich fünf Ruhrgebietsstädte: Bochum, Herne, Witten, Dortmund und Schwerte. Das Projektbüro Neuer Zirkus koordiniert das Programm. Info: https://zeitfuerzirkus.de/