Ruhrgebiet. Von Beweislastumkehr bis zu mehr Sicherheit für Zeugen: Diese zehn Vorschläge machen Fachleute, wie man Clan-Kriminalität besser bekämpfen kann.

Tumult, Schläge und Reizgas in der Essener Innenstadt – aber die Polizei kann die Täter nicht identifizieren. Eine Schießerei mit vier Verletzten auf dem Hamborner Markt in Duisburg mit rund hundert Beteiligten – über ein Jahr später läuft die Mammutermittlung noch, strafrechtlichen Konsequenzen gibt es bislang keine. Beharrlich arbeitet die Polizei im Hintergrund, identifiziert immer mehr Tatverdächtige – im Jahr 2022 waren es rund 4000 in NRW, ein Plus von 11,2 % – aber ein großer Schlag, gar eine Verurteilung ist noch nicht gelungen. Was kann man tun, um Clan-Kriminalität besser zu bekämpfen? Wir befragten Experten aus der Wissenschaft und von der Polizei. Das sind ihre zehn Vorschläge.

Beweislastumkehr verschärfen

„Solange ein Modell sich lohnt, wird die nächste Generation hineinwachsen“, sagt Michael Mertens von der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Der Landesvorsitzende sagt: „Wir müssen die Einnahmequellen dicht machen.“ Ein Werkzeug dafür ist die Beweislastumkehr, wie sie etwa in Italien praktiziert wird. Dort muss ein Beschuldigter nachweisen, wo er das Geld für den Barkauf einer Villa oder eines Luxusautos herhat. In Großbritannien gelten mit der „Unexplained Wealth Order“ ähnliche Regeln. Im Zweifel können Villa oder Auto beschlagnahmt werden.

Deutschland hat sich in diese Richtung bewegt. Seit 2017 muss ein Richter nur noch überzeugt sein, dass ein Vermögen aus einer Straftat stammt, allerdings sind die Details „rechtlich zu kompliziert“, sagt Mertens. Viel zu oft bekämen „die anderen“ das beschlagnahmte Vermögen zurück.

Vermögensabschöpfung

Bei der Identifizierung und Entziehung krimineller Gewinne könne Deutschland tatsächlich von anderen Ländern lernen, glaubt Achim Schmitz, Leiter der Abteilung für Organisierte Kriminalität beim Landeskriminalamt. Es habe gute Fortschritte gegeben, „aber da geht noch einiges“. Man müsse die bestehenden Regeln konsequenter anwenden und mehr Energie in die Finanzermittlung stecken.

Die Verfolgungsbehörden, von der Steuerfahndung über Zoll bis zu Polizei, müssen eng zusammenarbeiten. Aber auch im Justizsystem müsse die Sicherung des kriminell erworbenen Vermögens konsequenter verankert werden. Aus Sicht des Kriminalisten, sagt Schmitz, könnten auch einige Regeln überdacht werden: „Warum darf man 10.000 Euro über die Grenze bringen? Und wir sollten prüfen, welche Möglichkeiten wir auch außerhalb des Strafrechts haben, Personen bei nicht erklärbaren Vermögen nachweispflichtig zu machen.“

Kommunikationsüberwachung erleichtern

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Bei dem europäischen Projekt Exfiles haben Ermittler und Unternehmen aus acht Ländern zusammengearbeitet, um Kryptohandys zu entschlüsseln. Niederländische Fahnder haben so hunderte speziell gesicherte Mobiltelefone einer Drogenbande geknackt – ein spektakulärer Erfolg. Auch das Bundeskriminalamt ist beteiligt. „Ich denke, dass es in Zukunft weiter in diese Richtung geht: Überwachung der Kommunikation in großem Stil“, sagt Robin Hofmann. Der Kriminologe und Strafrechtler aus Essen forscht an der Uni Maastricht zur Organisierten Kriminalität. Er glaubt, wir müssen darüber diskutieren, wie wir den Datenschutz gestalten wollen, damit der Rechtsstaat effektiver werden kann.

Standards in der internationalen Zusammenarbeit

Es ist bereits viel in Bewegung geraten in der internationalen Zusammenarbeit, sagt Achim Schmitz vom Landeskriminalamt. Europol sei „deutlich operativer“ geworden. Und es gibt natürlich die europäische Staatsanwaltschaft und länderübergreifende Ermittlungen in „Joint Investigation Teams“, aber man müsse diese Instrumente weiterentwickeln, um sie schneller und schlagkräftiger zu machen. „Das hat viel mit Harmonisierung zu tun“, sagt Schmitz.

Der Datenschutz ist natürlich ein Thema. Oft seien die Widerstände gefühlt, es gebe meist Wege und Mittel, sich auszutauschen. Aber zu klären, was rechtlich geht, kostet Energie und Zeit. Man müsse nicht die nationalen Rechtssysteme umkrempeln, meint Schmitz, aber gemeinsame Standards müssten her. Und gemeinsame Instrumente. „Es würde mir helfen, wenn ich zum Beispiel mit den Kollegen in Italien mal eben eine Videokonferenz machen kann, die auch sicher ist.“ Momentan sind die Systeme dazu nicht mal eben kompatibel.

Anonyme Zeugenaussagen

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Viele Strafverfahren im Clan-Milieu platzen, weil Zeugen plötzlich nicht mehr aussagen wollen. In den Niederlanden sei das Problem nicht so groß, erklärt der Kriminologe Robin Hofmann. Denn dort sei es möglich Zeugenaussagen, die die Polizei aufgenommen hat, im Prozess zu verwenden, ohne den Zeugen erneut zu hören.

„Deutschen Richter sind sehr viel skeptischer, wollen sehen, wer da aussagt, wollen nachhaken und Widersprüche hinterfragen. Aber diese Vorgehensweise ist nicht gut geeignet, um organisierte Kriminelle zu verurteilen. Auch wenn es zum Beispiel um Zwangsprostitution und dergleichen geht, platzen die Prozesse immer wieder. Hier müsste man die Strafprozesse effektiver gestalten, ohne aber die Beschuldigtenrechte zu sehr zu beschneiden.“

Netzwerke schaffen

„Es darf nicht darum gehen, wer welche Ressourcen zur Verfügung stellt“, sagt Polizeigewerkschafter Mertens. Die Einrichtungen, die an der Bekämpfung der Kriminalität mitwirken müssten im Netzwerk dauerhaft zusammenarbeiten. „Nennen wir es eine Taskforce.“ Dazu gehören verschiedene Polizeibehörden, Staatsanwaltschaft und Zoll ebenso wie Steuerfahnder. Schwerpunktstaatsanwaltschaften wie die zur Bekämpfung von Clankriminalität in Duisburg müssten ausgebaut werden in allen Bundesländern.

Aussteigerprogramme

„Es muss mehr Aussteigerprogramme geben“, sagt Mertens. „Kurve kriegen“ ist das bekannteste Hilfsangebot, es richtet sich an junge Intensivtäter und ihre Familien. Aber was macht jemand, der seinem kriminellen Umfeld den Rücken kehren will, fragt Mertens. „Die Menschen sind ja in ihren Familien auch gebunden.“ Hier sieht er Potenzial. Denn, das sagen Ermittler und zeigen auch die Studien von Mathias Rohe, nur eine Minderheit in den sogenannten Clan-Familien ist direkt oder indirekt kriminell.

Finanzexperten gewinnen

„Ein Europol-Bericht hat gerade gezeigt, dass von den illegal erwirtschafteten Geldern in Europa weniger als 2 Prozent überhaupt abgeschöpft werden können“, erklärt Robin Hofmann. „Solange sich Kriminalität so lohnt, wird dem Phänomen nicht beizukommen sein.“ Aber Deutschland sei nicht besonders gut bei den Finanzermittlung, unter anderem fehle die Expertise. „Menschen, die Finanzexpertise haben, sind eher bei den Banken zu finden, da können sie mehr Geld verdienen.“ Das ist nicht nur in Deutschland ein Problem.

Ressourcen bündeln

Tatsächlich plant Bundesfinanzminister Christian Lindner die Schaffung einer neuen Bundesbehörde zur Bekämpfung von Geldwäsche. Sie soll sich mit anderen Behörden intensiv vernetzen. Ihr soll es erlaubt sein Grundbuchdaten und solche aus Eigentumsregistern abzugleichen. Allerdings gab es auch gleich Kritik an dem Vorhaben, interessanterweise vom Bund Deutscher Kriminalbeamter: Wo solle das Personal herkommen? Man verliere wertvolle Zeit mit der Gründung eines neuen Bundesfinanzkriminalamt. Wichtiger sei es die Geldwäschebekämpfung schnellstschnellstmöglich effektiv aufzustellen, erst danach solle man über eine Zentralisierung nachdenken.

Ansprechpartner finden

Man brauche Ansprechpartner in der Community, die Wissen über Hilfsangebote vermitteln, die Jugendlichen Perspektiven eröffnen, die mithelfen, Vertrauen aufzubauen. Das sagen viele Sozialarbeiter - und Prof. Mathias Rohe und Dr. Mahmoud Jaraba von der Uni Erlangen-Nürnberg untermauern diese These mit ihrem aktuellen Forschungsprojekt „Brückenbauer:innen“.

„Die dritte und vierte Generation der Zuwanderer hat sehr viel Potenzial“, sagt der Politikwissenschaftler Jaraba. „Wir können sehr viele davon gewinnen.“ Ein Indiz: „Ihre Eltern und Großeltern haben fast ausschließlich innerhalb der Gruppe geheiratet. Nun sehen wir, dass viele außerhalb heiraten wollen. Sie denken anders.“ Um Erkenntnisse über kriminelle Strukturen gehe es dabei nicht, sagt Rohe. „Das deutsche Recht verlangt von niemandem, gleich welcher Staatsangehörigkeit, einen Verwandten anzuzeigen.“ Prävention durch Integration ist das Ziel.

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Wer als Brückenbauer in Frage kommt? Frauen natürlich. Oder zum Beispiel Mediatoren, die bei sozialen Konflikten wie Scheidungen in der Community vermitteln. Damit sind nicht die „Friedensrichter“ gemeint, die bei Gewalt im Milieu schlichten. „Das sind ganz andere Leute“, sagt Jaraba und vergleicht seine Zielgruppe mit den Schiedsleuten, wie sie auch das deutsche Recht vorsieht – nur informell.

Wie man Brückenbauer gewinnt? An konkreten Empfehlungen arbeiten die Forscher noch. „Aber Vertrauen ist der Schlüssel“, sagt Rohe. Denn das Misstrauen gegen öffentliche Institutionen sitze tief. Es gibt Kinder, die wegen ihres Familiennamens in der Schule diskriminiert werden, auch das haben Rohe und Jaraba in einer Studie belegt. Und es sei auch kein Einzelfall, wenn der Erstkontakt zur Polizei im Kindesalter bei einem Abschiebeversuch zustande kam.

Man müsse die Kinder möglichst früh erreichen, sagt Rohe. Und es brauche eine dauerhafte Struktur, die Wissen und Vertrauen weiterträgt.“ Wenn zum Beispiel eine Quartiersmanagerin wechselt, sollte sie ihren Nachfolger vorstellen. Aber die gewonnenen Erkenntnisse und Kontakte sollten auch zwischen den Institutionen genutzt werden. Viele Sozialprojekt können schnell unübersichtlich werden, angesichts der Vielzahl an Beteiligten: Wohlfahrtsverband und Jugendamt, Quartiersmanager vom Uniinstitut und lokale Vereine … Oft gebe es die Sorge, dass der Datenschutz den Austausch nicht erlaube, sagt Rohe. „Von oben muss man deutlich machen, dass es doch geht“. Dortmund und Essen nennen Rohe und Jaraba als positive Beispiele.

>> Info: Der Bericht der FATF

Die „Financial Action Task Force“ hat ihr Mitglied Deutschland erst im August zu einem entschlosseneren Handeln gegen Geldwäsche aufgefordert. In ihrem neuen Bericht kritisiert die FATF die geltenden Regeln für Bargeldgeschäfte und den durch Datenschutz erschwerten Austausch zwischen Behörden und Bundesländern, die relativ intransparenten Eigentumsverhältnisse und die schleppende Durchsetzung von EU-Sanktionen. Sie mahnte ein wirksames Transparenzregister an, robustere Kontrollen durch die BaFin und ein insgesamt „proaktives Vorgehen gegen „nicht lizenzierte Finanzdienstleister“ – momentan reagierten die Aufsichtsbehörden vor allem.