Essen/Ruhrgebiet. Drohen Bandenkriege wie in Schweden? Die Strukturen sind anders als in Deutschland, erklärt ein Kriminologe. Mehr Gewalt könnte dennoch drohen.

In Schweden und den Niederlanden eskaliert die Gewalt durch Banden. Droht das auch im Ruhrgebiet? In Duisburg ist bereits Vergleichbares passiert: die Schießerei zwischen Rockern der Hells Angels und einem türkisch-libanesischem Clan auf dem belebten Hamborner Markt im Mai 2022. Aber Ermittler sehen dies als herausragenden Einzelfall. Die Tumulte und Schlägereien in der Essener Innenstadt und Castrop-Rauxel waren zwar öffentlichkeitswirksam, aber deutlich niedrigschwelliger. Der Strafrechtler und Kriminologe Robin Hofmann erklärt die Unterschiede zwischen den Ländern. Er wurde in Essen geboren und forscht an der Universität Maastricht in den Niederlanden zum Organisierten Verbrechen.

In Schweden und den Niederlanden bekämpfen sich Banden mit Schießereien und Bombenattentaten. Ist eine solche Entwicklung auch in Deutschland zu befürchten?

Letztes Jahr war ich in Skandinavien für Forschungszwecke. Ein Norweger sagte mir: „Was in Schweden passiert, haben wir in sechs oder sieben Jahre ganz sicher auch in Norwegen“. Die Polizei dort rechnet fest damit, auch weil die Sozialstruktur ähnlich ist. In Deutschland sieht die allerdings etwas anders, auch im Vergleich zu den Niederlanden. Auch das System der Friedensrichter sorgt in Deutschland dafür, dass die Konflikte ein Stück weit gewaltfreier verlaufen. Rechtsstaatlich ist das natürlich hoch problematisch.

Meine Prognose für Deutschland ist dennoch nicht sehr positiv. Wir sehen ja, dass man sich für die Krawalle in Essen gezielt die Innenstadt ausgesucht hat. Man hätte auch auf einen abgelegenen Parkplatz gehen können, wie es Hooligans für ihre Schlägereien tun. Aber es soll eine Drohkulisse aufgebaut werden, nicht nur für die anderen Clans, sondern auch gegenüber dem Rechtsstaat. Dieses relativ neue Phänomen sollte tatsächlich Sorge bereiten.

Robin Hofmann ist Strafrechtler und Kriminologe an der Universität Maastricht in den Niederlanden.
Robin Hofmann ist Strafrechtler und Kriminologe an der Universität Maastricht in den Niederlanden. © Privat

Friedensrichter sind ein stabilisierender Faktor?

Aus Sicht des Rechtstaats: nein. Aber wenn wir sagen, Konfliktvermeidung ist uns wichtig, dann ja. Gerichte sind den organisierten Kriminellen verwehrt, um ihre schief gegangenen Deals zu regeln. Über diese Friedensrichter können sie das. In den Niederlanden und auch in Schweden gibt es eine solch klare Struktur nicht. Dort haben wir es eher mit Netzwerken zu tun, bei denen die Täter oft im gleichen Viertel aufgewachsen sind in prekären Verhältnissen. Aber es hat den Charakter von zweckgerichteten Banden und Straßengangs, es handelt sich weniger um Clans.

In Deutschland sind dagegen die Familienstrukturen in der Clankriminalität stark, das ist in der Organisierten Kriminalität ein Erfolgsmodell, wie wir es auch bei der italienischen Mafia sehen. Es ist ein großer Vorteil, wenn sich niemand aus der Familie mit den Behörden unterhält. Ein Nachteil ist, dass Schlüsselpositionen oft mit Leuten besetzt werden, die nicht unbedingt qualifiziert sind, sondern nur das richtige Verwandtschaftsverhältnis mitbringen.

Aufmerksamkeit ist schlecht fürs Geschäft. Warum lohnt es sich dennoch, öffentlich Gewalt auszuüben?

Wir sehen eine neue Generation, die in die Machtpositionen strebt. In den Niederlanden sind es Migranten der zweiten, dritten Generation, dort geboren. Und offenbar wollen sie sich beweisen. Es braucht kein Maschinengewehr, um jemanden umzubringen. Wenn es für Hinrichtungen auf offener Straße gebraucht wird, soll das eine möglichst hohe Aufmerksamkeit erzeugen. Diese Taten oder Drohungen landen oft in den Sozialen Medien. Die spielen sicherlich eine große Rolle.

Sind es Botschaften an die Gefolgschaft?

Das sicherlich auch. Gerade in Schweden ist kaum vorstellbar, wie jung die Täter sind. Und es geht nicht um ein paar, sondern um ein paar Tausend Jugendliche von 13, 15 Jahren. In den Jugendzentren werden die Kids gezielt angesprochen, oft über Verwandte, aber auch auf der Straße. In diesen abgehängten Milieus verfängt es, wenn auf Instagram oder TikTok mit Waffen oder schnellen Autos geprotzt wird. Die Botschaft ist: Dollarscheine.

Ist Verbrechen eine Subkultur? Schon „Der Pate“ soll ja die Mode und die Methoden der italienischen Mafiosi beeinflusst haben.

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Definitiv. Es gibt den Link zu Hip-Hop und die entsprechenden Netflix-Serien. Und die Medien wirken auch zurück. In dieser Halbwelt wird dieses Gangster-Image gepflegt: viel Geld zu machen und am Limit zu leben.

Die Aufmerksamkeit ist doch auch ein Risiko.

Das wird eingepreist. Ich glaube nicht, dass die Täter in Deutschland aus ihrer Sicht ein großes Risiko eingehen. Das funktioniert aus ihrer Sicht alles noch so ganz gut.

Erleben wir in Europa einfach eine nachholende Entwicklung? In Mexiko oder Kolumbien hat sich entfesselte Brutalität als Mittel der Wahl schon lange durchgesetzt.

In den Niederlanden wird von einigen Kriminologen provokant in den Raum gestellt, ob man nicht schon von einem Narco-Staat sprechen kann. Ich glaube das nicht. Dazu gehört, dass wie in Mexiko die gesamte wirtschaftliche und politische Elite infiltriert ist. In den Niederlanden könnte dieses Einsickern in die Gesellschaft, wie es in Italien der Fall ist, schon begonnen haben. Also immer mehr Bestechung und Anwälte, Bänker, Immobilienmakler, die von der Organisierten Kriminalität stark profitieren. Drogengelder werden vermehrt in den Niederlanden gewaschen, etwa durch Investitionen in Immobilien oder neuerdings auch in Fußballvereine. Das sehe ich in Deutschland auch eher kommen als die bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Mexiko. Und für diese Geldwäsche braucht man Ermöglicher. Wie kauft zum Beispiel ein 21-Jähriger eine Villa für 7 Millionen Euro? Da haben staatliche Kontrollmechanismen versagt und auch der Notar wohl nicht so genau hingeschaut. (Anm.: Hofmann spielt an auf die Zwangsversteigerung einer Villa in Berlin, die mal dem Rapper Bushido gehörte. Der Sohn eines Clanbosses und früheren Geschäftspartners von Bushido ersteigerte die Villa zur Hälfte des Verkehrswertes, er war der einzige Bieter.)

Der Bandenkrieg forderte in Schweden zwölf Tote in einem Monat. Die Todesrate durch Schusswaffen ist mittlerweile die höchste in Europa, dreimal so hoch wie der Durchschnitt. Hier das zerstörte Haus in Uppsala.
Der Bandenkrieg forderte in Schweden zwölf Tote in einem Monat. Die Todesrate durch Schusswaffen ist mittlerweile die höchste in Europa, dreimal so hoch wie der Durchschnitt. Hier das zerstörte Haus in Uppsala. © AFP | Anders Wiklund

Gibt es – wie oft behauptet – eine kulturelle Komponente, eine Verachtung des Staates, die sich aus Herkunft oder Religion erklärt?

Diese Verbindung stellt zum Beispiel Ralf Ghadban her, der das beste Buch in diesem Bereich geschrieben hat. Ich bin da skeptisch. Von niederländischer Seite spielt die Religion eher keine Rolle. Vielleicht definiert man eher über das nicht niederländisch oder deutsch sein und dann über die Ablehnung des Rechtsstaates. Aber da begebe ich wissenschaftlich mich auf dünnes Eis. Das Geprotze mit dicken Autos, das hier oft als Beleg herangezogen wird, sehen wir auch bei Fußballern und Investmentbankern. Ich würde es eher als Ausdruck einer testosterongesteuerten Subkultur sehen.

Was bringt die Taktik der 1000 Nadelstiche, bei der Zoll, Polizei und andere Behörden zum Beispiel Shisha-Bars kontrollieren?

Die Idee dahinter ist, dass die Clan-Mitglieder es sich in ihren Wohnzimmern nicht mehr so gemütlich machen können und dass Erkenntnisse über Personen gewonnen werden. Aber die Erfolgsquote ist bislang nicht besonders groß. Ich warte noch auf ein großes Clan-Strafverfahren, wo mal mehrere große Köpfe auf der Anklagebank sitzen. Ich glaube, das wäre auch ein besseres Signal an die Bevölkerung, dass der Rechtsstaat die Kontrolle zurückerlangt, als diese nächtlichen Großrazzien, bei denen hunderte Beamte ein paar Kilo unversteuerten Tabak finden und vielleicht einen oder zwei Haftbefehle vollstrecken. Aber fairerweise muss man sagen, dass diese Strategie langfristig angelegt ist und es Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte dauern könnte, bis die Clans zurückgedrängt sind.