Köln/Hagen. Norbert Reicherts und Christoph Schmidt haben als katholische Priester ihre Anstellung gekündigt. Als Seelsorger bieten sie Spiritual Care an

Knapp 360.000 Frauen und Männer sind in Deutschland im Jahr 2021 aus der katholischen Kirche ausgetreten. Spirituelle Bedürfnisse haben sie weiterhin. Und auch Mitglieder der katholischen Kirche sind spirituell vielfach unterversorgt wegen des Priestermangels in den Großgemeinden. Andere Bürger gehören gar keiner Glaubensgemeinschaft an. Um sie alle kümmern sich Norbert Reicherts und Christoph Schmidt vom Verein Unergründlich in Köln. Die beiden Männer haben ihren Beruf als katholische Priester gekündigt, Seelsorger bleiben sie weiterhin und begleiten Menschen konfessionsunabhängig in Freude und Leid. Bei der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin bauen die beiden Seelsorger derzeit mit einer Kollegin aus Frankfurt den Bereich „Spiritual Care“ auf. Denn ein würdiger Abschied gehört zu den großen spirituellen Themen unserer Zeit.

Kirche der Angst

Norbert Reicherts war Priester im Erzbistum Paderborn, Christoph Schmidt im Bistum Essen. Sie haben sich vor vielen Jahren als Liebende und Lebenspartner gefunden. Doch ihre Berufe haben sie 1998 nicht gekündigt, weil es für schwule Pfarrerpaare keinen Platz gibt, sondern weil sie nicht mehr in einer Kirche der Angst leben wollten. „Solange es nicht öffentlich wird, ist in der katholischen Kirche alles erlaubt“, konstatiert Norbert Reicherts. „Suspendierung wird als Strafe benutzt oder weil es Druck aus der Öffentlichkeit gibt.“ Christoph Schmidt ergänzt: „Wir sind sehr stolz darauf, dass wir sagen können. Wir haben die Anstellung gekündigt. Wir sind im Nachhinein suspendiert worden, weil sie es nicht ertragen, dass Leute sagen: Wir verlassen jetzt die Institution. Wir haben nicht gekündigt, weil wir nicht zölibatär leben wollten, sondern aus viel grundsätzlicheren Gründen. Selbst wenn ich heute allein leben würde, wäre ich diesen Schritt gegangen. Dieses ganze Machtgefüge rund um Gott halten wir für falsch. Wer kann denn Gott nicht verstehen? Werdet wie die Kinder!“ Priester bleibe man ohnehin ein Leben lang, weil die Weihe, das Sakrament, nicht rückgängig gemacht werden könne.

Menschen brauchen Begleitung

Reicherts und Schmidt standen also auf der Straße und mussten das tun, was sie gelernt hatten: Menschen begleiten. Sie haben sich weitergebildet, kunst- und gestalttherapeutische Studien abgeschlossen und am Ende eines langen Weges in Köln den Verein Unergründlich gegründet, der ihrem Engagement einen formalen Rahmen gibt. Bei allen Tätigkeiten haben sie immer wieder festgestellt: Was die Menschen wirklich brauchen, ist heute schwer zu kriegen: professionelle spirituelle Begleitung.

Wachsenden Bedarf gibt es in der ambulanten Betreuung von Sterbenden und ihren Familien. Allein im Palliativteam SAPV Köln versorgen rund 100 Ärzte und Pflegekräfte etwa 300 Patientinnen und Patienten, das entspricht 30 unsichtbaren Hospizen. „Die Kolleginnen und Kollegen haben gemerkt, dass ihnen etwas fehlt, nämlich eine konfessionsfreie professionelle seelsorgliche Begleitung“, erläutert Christoph Schmidt. Spiritual Care ist der neue Fachbegriff für konfessionsübergreifende Seelsorge am Sterbebett.

„Das Wichtigste ist, dass die Angehörigen gestärkt werden, dass sie es zu Hause schaffen. Dass der Sterbende in seinem Heim bleiben kann und nicht im Krankenhaus sterben muss“, sagt Norbert Reicherts. „Dafür braucht es Vertrauen, und Vertrauen ist eine spirituelle Dimension.“ Christoph Schmidt: „Wenn die Ärzte an ihre Grenzen stoßen, kommen wir ins Spiel. Und es kommen auch selbst Ärzte und Pflegekräfte zu uns und suchen spirituelle Unterstützung.“

Ehrenamtliche ausbilden

Birgit Boukes ist Theologin, Lehrerin und die ehrenamtliche Vorsitzende des Vereins Unergründlich. Sie sagt: „Existenzielle Fragen haben alle Menschen. Aber nicht alle wollen von den Kirchen versorgt werden, und die Kirchen können auch nicht mehr alle versorgen. Wir sind für diese Menschen der Ansprechpartner.“

In einer Zeit, in der das Sterben immer noch ein großes gesellschaftliches Tabu darstellt und die Familien oft nicht wissen, wie sie mit einem sterbenden Familienmitglied umgehen sollen, erhält Spiritual Care wachsende Bedeutung. Norbert Reicherts: „Wir kommen in den ganz drängenden Fragen, wo die Ehrenamtlichen überfordert sind. Wir bilden für die Hospizvereine auch Ehrenamtliche aus.“

Rituale helfen

Bei der Sterbebegleitung helfen Rituale, auch solche von früher. Christoph Schmidt: „Dann hole ich vielleicht die Enkelkinder dazu und frage: Mögt ihr euch die Hand geben? Mögt ihr beten? Wenn es passt, beten wir ein Vaterunser. Oder ich lade, wenn die Menschen mich bitten, alle ein, den Sterbenden selbst zu salben. Wir erlauben uns, mit den Ritualen kreativ umzugehen. Was wir können ist, die vorhandenen Nöte zu spüren und etwas anbieten, was Halt gibt.“ Der Seelsorger denkt kurz nach: „Wenn es gelingt, dass die Menschen es mit unserer Hilfe allein schaffen, dann ist das auch ein Segen.“

Norbert Reicherts denkt noch weiter: „Ich könnte mir vorstellen, dass Spiritual Care ein Gedanke ist, der auf viele Bereiche unseres Alltags übertragen werden könnte.“

Der Verein Unergründlich

Der Verein Unergründlich in Köln bietet unter anderem das Café Spiritualität an, bei dem sich die Besucher treffen und miteinander sprechen, dazu auch Workshops zu Fragen wie Einsamkeit und Vergebung sowie Lebensfeiern mit Gesängen und Gebeten nach dem christlichen Kalender. Vorsitzende Birgit Boukes: „Wir wollen unterstützen, dass die Menschen ganz verschieden sind, die zu uns kommen, verschieden in dem, was sie glauben und was sie brauchen.“

Christoph Schmidt: „Das ist auch christlich, das ist alles, was ich gelernt habe. Das ist Pfingsten. Da gab es keine Priester. Da haben die Menschen einander verstanden, obwohl sie nicht dieselbe Sprache sprachen. Sie verstehen sich, weil sie verschieden sind.“
www.unergründlich.de