Bochum. Covidzahlen steigen, Regeln gelten nicht mehr. Infizierte gehen ohne Maske aus dem Haus. Ein Experte nennt das „unerhört“, kann es aber erklären.

In der Pandemie haben wir es doch gelernt: Maske, Test und Abstand schützen vor Ansteckung, Hände zu waschen ist sinnvoller als sie zu schütteln. „AHA-Regeln“ bestimmten in der Corona-Zeit unseren Alltag. Jetzt gibt es offiziell gar keine Corona-Schutzmaßnahmen mehr, im April kippten die letzten gesetzlichen Vorschriften. Wer heute mit Mund-Nasen-Schutz in der Bahn oder im Theater sitzt, fällt auf. Dabei kennt doch gerade wieder jeder jemanden, der positiv getestet ist oder mindestens schnauft und schnieft, als könnte er es sein. Der Bochumer Psychologe Prof. Jürgen Margraf vom Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit (FBZ) der Ruhr-Universität Bochum erklärte Ute Schwarzwald, warum es manchmal vernünftig wäre, sich an Regeln zu halten, die gar nicht mehr gelten – und warum das schwer fällt.

Prof. Jürgen Margraf, klinischer Psychologe am Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit der Ruhr-Uni. Der 67-Jährige ist auch Mitglied der renommierten Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften.
Prof. Jürgen Margraf, klinischer Psychologe am Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit der Ruhr-Uni. Der 67-Jährige ist auch Mitglied der renommierten Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften. © FUNKE Foto Services | Olaf Ziegler

Die SarsCoV-2-Infektionszahlen steigen, moderat, aber sie steigen wieder. Doch die meisten Menschen scheinen das zu ignorieren. Wieso? Noch vor einem Jahr interessierte die Corona-Lage doch brennend...

Margraf: Das hat mit unserer Risikowahrnehmung zu tun. Alles, was uns unbekannt, außergewöhnlich und unfreiwillig erscheint, halten wir für gefährlich. Oft überschätzten wir diese Gefahr sogar. Im Umkehrschluss heißt das: Gefahren, die wir meinen zu kennen oder freiwillig auf uns nehmen, fürchten wir nicht so sehr, die unterschätzen wir. Vor drei Jahren tauchte aus dem Nichts plötzlich ein neues Virus in unserem Leben auf, eine Gefahr, die man nicht einmal sehen konnte. Jetzt haben wir Lockdowns, Schulschließungen, eine ganze Pandemie hinter uns, wir sind an Corona gewöhnt. Und wenn wir in der Zeitung lesen, dass in den USA schon wieder 600 Menschen pro Woche an Corona sterben, sagen wir nur: Wird bei uns schon nicht so wild werden.

„Wir wollen uns nicht schon wieder einschränken lassen“

Auch interessant

Reden wir uns Gefahren, die wir kennen, schön?

Wir glauben immer, uns selbst trifft es nicht. Wir rauchen ja auch, obwohl wir wissen, wie schädlich das ist. Denn es gibt ja Kettenraucher, die mit 85 noch fit sind… Und natürlich wollen wir uns nicht gerne schon wieder einschränken lassen.

Wir lassen uns nicht gern etwas vorschreiben? Wir wissen, es wäre vernünftig zuhause zu bleiben oder mindestens in der Bahn wieder Maske zu tragen, wenn wir uns grippig fühlen, aber haben einfach keine Lust mehr drauf?

Wahrscheinlich ist das so. Mancher denkt vielleicht aber auch: Die Maske schützt ja mehr den anderen als mich. Ich habe den Aufwand, andere den Nutzen. Mir bringt das vernünftige Verhalten nichts, also lass ich es gleich. Bei uns gibt es eben auch keine entsprechende kulturelle Tradition. In Ostasien gelten Sie als asozial, wenn ohne Maske hustend in die U-Bahn steigen.

Auch interessant

Hier werden Sie mit schief angeguckt….

Sogar angepöbelt, und in den USA womöglich erschossen. Diese Polarisierung der Gesellschaft ist nicht neu. Wer eine Maske trägt, zeigt auch: Das Virus ist nicht aus der Welt, die Gefahr ist noch nicht vorbei, ich nehme sie ernst. Manchen Menschen macht das Angst. Und Angst kann aggressiv machen. Andere wollen sie nicht sehen. Daran erinnert zu werden, ist ihnen peinlich.

„Strikte Verbote führen auch zu Trotzreaktionen“

Sämtliche Corona-Regeln sind gekippt. Heißt das: Alles ist wieder erlaubt?

Ein großes Problem. Wir hatten gute Regeln, zogen anfangs alle an einem Strang, auch die Regierung. Und deswegen sind wir zunächst besser als andere Länder durch die Pandemie gekommen. Doch dann wurde aus dem politischen Einvernehmen ein kakaphoner Chor. Dadurch haben wir sehr vieles verschenkt. Ich habe beispielsweise in diesem Juli Corona bekommen – und ich kann nicht verstehen, dass ich das nirgendwo mehr melden konnte, oder warum die Warn-App abgestellt werden musste.

Auch interessant

Kann man das Ende der Beschränkungen nicht auch als Chance sehen, sind freiwillig befolgte Regeln nicht auch leichter zu befolgende?

Natürlich erhöht das die Akzeptanz. Strikte Verbote führen ja auch gern zu Trotzreaktionen, jetzt mach’ ich es erst recht. Reaktanz nennen Psychologen ein solches Verhalten. Als Kind hab ich beispielsweise oft meine Zahnbürste nur nass gemacht, wenn mich meine Eltern zum Zähneputzen „zwingen“ wollten. Wie bescheuert das war, hab ich erst Jahre später begriffen, als ich viel Zeit beim Zahnarzt verbrachte.

Brauchen wir also wieder neue Corona-Regeln?

Wir dürfen nicht überregulieren. Aber kollektiv können wir schlauer handeln als jeder einzelne für sich. Dass man bei Rot vor der Ampel hält und nicht rast, wird ja auch akzeptiert. Dass man erkältet nicht unter Leute geht, sollte ebenso selbstverständlich sein. Es doch zu tun, andere anzustecken, halte ich für Körperverletzung und unerhört. Jeder, der sich so verhält, sollte dafür mindestens belangt werden können.