Essen. Viele Menschen sind wieder krank, husten und fiebern. Ist das normal für die Jahreszeit? Oder bahnt sich eine neue Infektionswelle an?
Der erste Winter nach der Pandemie steht vor der Tür - und die Unsicherheit wächst. Denn die Zahl der Menschen, die erkrankt ausfallen, sie steigt - zumindest gefühlt. Ist Corona wieder ein Thema? Oder sollten wir uns vor anderen Erkrankungen weit mehr fürchten? Wie kommen wir heil durch die dunkle Jahreszeit? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie ist die Situation im Revier?
Den Zahlen zufolge: entspannt, besser als in der Vorwoche. Für KW 38 meldet das Landeszentrum Gesundheit NRW 1.324 Corona-Infektionen, das entspricht einer Inzidenz von 7,3 (KW 37: 7,54). Vor einem Jahr lag die Fallzahl bei 49.017 und die Inzidenz bei 273,5. Im Ruhrgebiet beträgt sie aktuell 8,04, wobei die Zahlen von Stadt zu Stadt stark schwanken. Bottrop meldet 24,55 – Oberhausen 4,27.
Laut DIVI-Intensivregister werden derzeit NRW-weit 50 Corona-Patienten intensivmedizinisch behandelt, die meisten von ihnen sind über 80 Jahre alt. Auf dem Höhepunkt der Pandemie im Winter 20/21 lagen landesweit 1.157 Covid-Patienten auf einer Intensivstation.
Wie komme ich heil durch den Winter? Alles dazu lesen sie hier
Die Zahl aller akuten Atemwegserkrankungen (dazu zählen neben Sars-CoV-2 etwa auch Influenza-, Rhino- und RSV-Infektionen) liegt laut „GrippeWeb“ des RKI inzwischen „im Wertebereich der vorpandemischen Jahre“, heißt es im Wochenbericht. Im Vergleich zur Vorwoche ist die „ARE_Quote“ sogar gesunken. Auch die Universitätskinderklinik am Bochumer Josef-Hospital verzeichnet „noch kein außergewöhnlich hohes Aufkommen an Infektionserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen“, so Direktor Prof. Thomas Lücke in der vergangenen Woche. Die Hausärzte indes spüren bereits einen Anstieg des Infektgeschehens. „Bislang bewegt sich das Ganze aber im Rahmen und ist für diese Jahreszeit nicht außergewöhnlich“, findet Anke Scheer-Richter, Vorsitzende des Hausärzteverband Westfalen-Lippe. Monika Baaken, Sprecherin des Hausärzteverbands Nordrhein nennt den Anstieg der Zahlen „früher als in anderen Jahren“. „Das liegt wohl an den Wetterverhältnissen.“ Das Landesgesundheitsministerium (MAGS) spricht von einem „gängigen saisonalen Muster“.
Darf man den Corona-Zahlen noch trauen?
Nein. Die wenigsten lassen sich überhaupt noch testen, positive Selbst-Tests werden meist nicht einmal registriert. „Wir kennen die genaue Zahl der aktuellen Covid-Infektionszahlen nicht“, sagt Prof. Ulf Dittmer, Chef-Virologe der Essener Universitätsmedizin. Er glaubt, dass wir gerade eine „Spätsommerwelle“ erleben – mit überwiegend leichten Verläufen. „Über die Woche kommen nur ein paar Patienten zu uns, die wir auf der Normalstation mit Sauerstoff versorgen müssen, weil es ihnen schlecht geht. Auf der Intensivstation hatten wir bis Dienstag (19.9.) seit Wochen keinen einzigen Corona-Patienten.“ Dann mussten innerhalb von zwei Tagen drei Covid19-Erkrankte aufgenommen werden – „alle mit starker Immunsuppression“, so Dittmer („sicher keine Entwicklung, eher Zufall“.)
Die aktuellen Ergebnisse des „Abwassermonitoring“ zeigen laut Landesgesundheitsministerium eine geringe „Viruslast“. Diese Abwasseruntersuchungen helfen aber ebenfalls nicht wirklich, die aktuelle Corona-Lage einzuschätzen, meint der Experte. „Sie sind gut darin, neue Varianten zu entdecken. Oder um zu bestimmen, welche gerade zirkuliert. Aber um abzuschätzen, wie viele Menschen erkrankt sind, taugen sie eher nicht.“ Es gebe Rechenmodelle, die gewisse Rückschlüsse auf Fallzahlen ermöglichten, „aber einmal Regen verwässert diese Zahlen sofort – im wörtlichen Sinne.“
Was erwartet uns in den kommenden Monaten?
Schwer vorherzusagen. Schlimmstes denkbare Szenario ist ein Zusammentreffen mehrerer massiver Infektionswellen.
Im vergangenen Winter brachte das Respiratorische-Syncytial-Virus (RSV) Kinderarztpraxen und -kliniken zeitweise ans Limit, Experten erklärten die auffallend hohen Infektionszahlen mit dem Nachholeffekt der Pandemie-Jahre. Die Bochumer Kinderpneumologin Prof. Folke Brinkmann, die inzwischen die Pädiatrische Pneumologie der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Uniklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck leitet, fürchtet für dieses Jahr aber keine Wiederholung. Die RSV-Erkrankungszahlen werden ihrer Einschätzung zufolge vermutlich auf Vor-Pandemie-Niveau bleiben. „Nur die Saison hat sich ein bisschen verschoben, es fängt vielleicht früher an.“
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Der derzeitige Anstieg der Atemwegserkrankungen sei beinahe ausschließlich auf das Sars-CoV-2-Virus zurückzuführen, sagt der Virologe Dittmer. Wie sich die Zahl der RSV-Infektionen entwickeln werde, ob es erneut zu einer schweren Welle kommen wird, sei schwer abzuschätzen. Dass eine heftige Grippewelle anrollt, hält er für wahrscheinlicher: „Wir sehen sie gerade auf der Südhalbkugel…“
Dittmer geht zudem von ein, zwei Corona-Wellen in den kommenden Monaten aus, „die erste im Winter, eine zweite im Frühjahr“. „Das Virus ist noch immer in der Lage sich zu verändern und auch immer noch Menschen neu zu infizieren. Doch in der Bevölkerung gibt es inzwischen eine breite Immunität – was Antikörper und T-Zellen angeht. Daher werden wir nur sehr wenige schwere Fälle sehen, denke ich.“ Die aktuell in NRW dominierenden Varianten des Corona-Virus seien Eris und XBB, beides Omikron-Untervarianten, „genetisch kein Riesensprung“, wie Dittmer meint, „anders als BA.2.86“. Ein erster Fall dieser auch Pirola genannten und vermutlich sehr infektiösen Virusvariante ist in Deutschland laut RKI in dieser Woche zwar auch schon aufgetaucht, „durchsetzen tut sie sich zurzeit aber eher nicht“, erklärt der Virologe.