Essen. In China explodieren die Infektionszahlen. In Deutschland sind die Menschen gut geschützt, sagt Essens Chef-Virologe Ulf Dittmer. Eigentlich.
China hat Anfang Dezember unerwartet seine Null-Covid-Strategie beendet und seine rigiden Corona-Beschränkungen aufgehoben. Seither explodieren die Infektionszahlen offenbar. Welche Folgen die Entwicklung in China für uns und die Pandemie insgesamt hat, erklärt Prof. Ulf Dittmer, Leiter des Instituts für Virologie der Uniklinik Essen, im Interview.
Die Lage in China ist unübersichtlicher denn je. Was hören Sie in diesen Tagen von Ihren Forschungspartnern an den Universitäten in Wuhan und Shanghai?
Ulf Dittmer: Die Lage ist tatsächlich sehr unübersichtlich, es gibt viel Hin und Her. Der Austausch mit den Kollegen vor Ort ist auch nicht mehr so einfach wie zu Beginn der Pandemie, sie sind vorsichtiger geworden, unsere Kontakte werden vermutlich überwacht. Unsere Partnerkliniken in Wuhan und Shanghai berichten aber von großem Patienten-Zustrom. Wobei es in China kein Hausarzt-System gibt. Kranke, die sich nicht selbst therapieren können, gehen direkt in eine Klinik. Und zweieinhalb Jahre lang wurde den Menschen in China vermittelt: Corona ist sehr gefährlich, eine Infektion muss sofort gemeldet werden.
Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung ein?
Die Welle ist nicht mehr aufzuhalten. Das war sie im Übrigen auch nicht, als die strikten Corona-Regeln noch galten, die hätten sie höchstens verlangsamt. Und es wird, wenn die großflächigen Lockerungen aufrechterhalten werden, eine sehr große, sehr heftige Welle.
Forscher der Universität Hongkong prognostizieren eine Million Tote in China…
Ja, die medizinische Lage im Land kann sehr dramatisch werden. Vor allem, weil die Alten in China am wenigsten geimpft sind. Omikron ist nicht so tödlich wie Delta, aber aus Studien in den USA wissen wir, dass Ungeimpfte über 60 ein 20-fach höheres Risiko haben, an einer Omikron-Infektion zu versterben als geimpfte Menschen. Omikron ist also nicht völlig harmlos.
Müssen auch wir, 7.500 Kilometer entfernt, mit Auswirkungen rechnen
Personentechnisch gibt es zwischen Deutschland und China relativ wenig Austausch. Und die, die aus China zu uns kommen, müssen vorher in Quarantäne, sind mehrfach getestet; ihre Impfungen werden nachkontrolliert, viele nachgeimpft. Wir befürchten allerdings, dass es zu neuen Mutationen des Virus kommt, wenn es sich unkontrolliert unter 1,4 Milliarden Menschen ausbreiten kann. Riesensprünge in der Virusevolution sehe ich allerdings nicht mehr. Aber Immunflucht, wie bei der neuen Omikron-Variante BQ1.1, bereitet uns Sorge. Wenn sich die weiter ausbreitet, können wir alle Antikörper-Präparate, die wir für BA-Untervarianten von Omikron entwickelt haben, in die Mülltonne werfen. Die wirken nicht gegen BQ1.1. Andererseits sind im Westen bereits sehr viele Menschen geimpft und/oder infiziert. Wir haben daher hier eine breite T-Zell-Immunität (körpereigene zelluläre Immunantwort, die Red.), die uns sehr gut gegen Erkrankung schützt.
Apropos Impfung: Kein Land der Welt hat mehr geimpft als China. 91,7 Prozent der Gesamtbevölkerung sind inzwischen mindestens einmal immunisiert. Liegt es am Vakzin, dass sich dennoch derzeit so viele Menschen mit SarsCoV2 anstecken? Die beiden in China verwendeten Tot-Impfstoffe schützen Studien zufolge weniger gut vor Ansteckung und schweren Verläufen als die mRNA-Vakzine, die bei uns vorrangig verwendet werden.
Die chinesischen Impfstoffe sind mRNA-Impfstoffen unterlegen. China hatte zudem eine ganz andere Impfstrategie als wir. Dort wurde zuerst das Militär geimpft, dann die „workforce“, am Arbeitsplatz. Die Alten blieben zunächst außen vor, bekamen erst ein Angebot, als man mit allen anderen schon durch war, jetzt drängt man sie. Sie sind daher schlechter versorgt als bei uns – und nach der jüngsten Rolle rückwärts in der Corona-Politik auch sehr skeptisch, was das Impfen angeht.
Wird es für uns nun wieder schwieriger Masken und Tests zu beschaffen?
Ja, könnte sein. China ist der größte Hersteller von Antigen-Schnelltests. Unsere PCR-Tests kommen aber nicht aus China. Masken könnten rar werden. Das Programm „Wir produzieren mehr in Europa“ ist nie wirklich ins Laufen gekommen. Und weltweit werden im Großraum Wuhan die meisten medizinischen Einmalprodukte hergestellt.
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Was ist mit Medikamenten?
Die beziehen wir vor allem aus Indien. Und die Situation in China war schon zuvor schwierig, wegen der Lockdown-Politik, das wird sich jetzt nicht groß verschlimmern. Schon da waren Lieferketten und Personal nicht planbar.
Schon vor der Lockerung der strikten Corona-Regeln hat die Weltgesundheitsbehörde einen rasanten Anstieg der Infektionszahlen in China festgestellt. War die Null-Covid-Strategie aus virologischer Sicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt?
Ja, gegen ein RNA-Virus, das durch Veränderung immer infektiöser wird, hilft keine Null-Covid-Politik. Sie verschafft einem höchstens Zeit, einen Impfstoff zu entwickeln und Therapeutika. Unsere chinesischen Kollegen wussten natürlich auch, dass das nicht durchzuhalten ist, wurden aber offensichtlich nicht erhört. Einige haben selbst Prototyp-Impfstoffe entwickelt, die uns besser als die verfügbaren erschienen. Sie gelangten aber nie zur klinischen Entwicklung – Politiker in einem autoritären Staat zu beraten, ist schwierig. Ich verstehe insbesondere nicht, warum sich die chinesische Regierung noch in diesem Sommer weigerte, die Alten gezielt zu impfen und sich endlich einen mRNA-Impfstoff ins Land zu holen.
Sollte Deutschland seine aktuelle Covid-Politik verändern angesichts der Entwicklung in China?
Wir können und brauchen nicht wieder alles zu verändern. Über 95 Prozent der Menschen in Deutschland haben Antikörper gegen das Virus und viele, viele T-Zellen. Das führt dazu, dass wir hier nicht mehr schwer erkranken werden an Corona. Gefahr besteht noch für Ungeimpfte, vor allem, weil eine Omikron-Infektion alleine kaum Immunität auslöst.
Ist ein Ende der Pandemie also abzusehen?
Man macht eine Pandemie nicht an der Krankheitsschwere fest. Aber ich denke nicht, dass wir uns nach diesem Winter weiter mit schweren medizinischen Folgen von Corona beschäftigen müssen.