Essen. Jallal Al-Abtah kam 1978 aus dem Libanon nach Deutschland. An den Kliniken Essen-Mitte machte der Pflegeexperte Karriere in der Naturheilkunde.
In dem Flüchtlingslager im libanesischen Al Badawi, in dem seine Eltern geboren wurden und er seine ersten Lebensjahre verbrachte, gab es wenig. Medikamente nie, erzählt Jallal Al-Abtah. Wenn eines der Kinder krank war, habe es seine Mutter, eine Schneiderin, mit Kräutern, Wickeln und anderen Hausmitteln kuriert, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. Auch Jahre später, als die palästinensische Familie längst in Essen-Steele lebte, „kamen die Nachbarskinder mit Ohrenschmerzen immer zu uns“. Al-Abtahs Mutter machte etwas Olivenöl warm, tröpfelte es ihnen in die Ohren. „Dass es hilft, wusste ich schon als kleiner Junge. Ich bin sozusagen mit Naturheilkunde groß geworden“, lacht der heute 49-Jährige, inzwischen selbst Vater zweier Söhne (9,10) – und seit 2007 Stationsleiter der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin im Knappschaftskrankenhaus der Evangelischen Kliniken Essen-Mitte.
54 Betten hat Al-Abtah mit seinen 30 Mitarbeitenden pflegerisch zu versorgen, er selbst sei verantwortlich für „Organisation, Planung und alle anderen Unwägbarkeiten“. „Ich löse Probleme“, sagt er. Und er löst sie wohl gut. Seine Station ist beliebt, die Fluktuation der Mitarbeiter sehr gering. Patienten mit chronischen Erkrankungen, Schmerzen, Rheuma, COPD oder Darmentzündungen etwa gilt es zu betreuen. Viele seien „geplagt seit Jahren“, „viele leiden wegen ihrer Schmerzen unter traumatischen Erfahrungen“, so Al-Abtah. Mit natürlichen Mitteln, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist, versucht man, die Beschwerden zu lindern – gemeinsam mit der Schulmedizin, nicht alternativ dazu. In der Klinik wird zum Thema zudem geforscht. Der Pflegechef war zuletzt beteiligt an einer Studie, die die Wirkung eines Diclofenac-haltigen Schmerzgels mit der von Kohlwickeln gegen Kniegelenksarthrose verglich. (Ergebnis: Beides wirkt gleich gut!). Fast alle seiner 30 Pflegekräfte haben eine Weiter- oder Zusatzausbildung, zur „Pain Nurse“, zum Kneipp- oder Phyto-Therapeuten , als Heilpraktiker; alle haben eine Qualifikation in „NADA-Ohrakupunktur“; alle seien „besonders einfühlsam, bei uns läuft viel über Gespräche“.
„Mein Arabisch wird immer schlechter“
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Jallal Al-Abtah war fünf, als er mit seinen Eltern 1978 nach Deutschland kam, wo eine Oma bereits lebte. Über die DDR, Berlin und das Durchgangslager Unna-Massen landete die Familie in einem „Asylantenheim“ in Essen. Man sei hier freundlich aufgenommen worden, erinnert er sich. „Anfeindungen gab es damals noch nicht.“ Aber auch keine Integrationskurse – Jallal sprach kaum ein Wort Deutsch, als er ein Jahr später eingeschult wurde. Ein Freund aus der Nachbarschaft, der die gleiche Klasse besuchte, habe damals für ihn „übersetzt“, erzählt er, „leider nicht immer das, was ich hatte sagen wollen.“ Heute spricht Al-Abtah wie jeder andere Ruhri auch und akzentfrei Deutsch sowieso. Hier und nirgendwo sonst fühlt er sich zuhause, himmelte als Kind Pierre Littbarski und Icke Häßler an, drückt für den Meistertitel in diesem Jahr dem BVB die Daumen. 1990 schon wurde er eingebürgert, da stand er gerade im Abitur. „Mein Arabisch wird immer schlechter“, klagt der Mann jetzt. Mit den Söhnen sprächen er und seine Frau ihrer beider Muttersprache kaum noch.
Wegen des Bürgerkriegs im Libanon war die Familie nach Deutschland geflüchtet. Als er in Deutschland kurz nach der Einbürgerung die Einberufung erhielt, verweigerte Al-Abtah den Wehrdienst. „Ich wollte lieber Zivildienst im nächstgelegenen Krankenhaus leisten.“ Es war das „Knappi“ in Steele, in dem er nach der Zivi-Zeit auch die Ausbildung zur Pflegefachkraft absolvierte und noch heute arbeitet. „Als 1999 hier die Abteilung für Naturheilkunde eröffnete, war mir sofort klar: Da will ich hin“, erklärt er.
„Monetäre Anreize reichen nicht“
Diskriminierung habe er persönlich nie erlebt, sein Bruder schon, ja. Aber er will sich nicht einmal an einen einzigen „schiefen“ Blick erinnern. Bürokratische Hürden, indes, habe seine Familie viele überwinden müssen. Sie war ja zunächst nur geduldet in Deutschland, sogar geduldet nur in Essen, erzählt Al-Abtah. Sein Vater, ein Holzschneider, sei etwa sehr traurig gewesen, als er bei der schwierigen Suche nach Arbeit endlich ein Job-Angebot einer Schreinerei in Bielefeld erhielt – und es nicht annehmen durfte. Die Behörden erlaubten es nicht. Es seien solche Dinge die man ändern müsse, wolle man in Zeiten akuten Fachkräftemangels mehr Migranten wie ihn für Deutschland begeistern. „Niemand verlässt gerne sein Heimatland. Monetäre Anreize reichen nicht, die ersetzen keine Herzensangelegenheiten“, findet Al-Abtah. „Wir müssen gucken, was brauchen diese Menschen, um sich hier wohl zu fühlen.“
Bis 2030 werden laut Prognosen vor allem des demografischen Wandels wegen 300.000 zusätzliche Kräfte in der Pflege benötigt. Wie groß der Mangel an Arbeitskräften schon heute ist, erlebe er tagtäglich, sagt Al-Abtah – obwohl auf den beiden Stationen für die er verantwortlich ist, keine Stelle unbesetzt ist, auf zehn Patienten wie gewollt eine Pflegekraft kommt. „Aber jedes Wochenende gleicht einer Katastrophe, da stopfen wir Notflicken auf Notflicken, um die Patienten betreut zu bekommen. Und die Decke wird immer dünner.“ Al-Abtah betont, dass andere Stationen, die Geriatrie etwa, „noch schlimmer dran sind. Bei uns können viele Patienten allein essen, sich selbstständig waschen und anziehen. In der Geriatrie hat eine Pflegekraft ihre zehn Patienten auch in der Grundpflege, das ist körperlich wirklich belastend“.
54 Patienten – und zwei Pflegekräfte
In der Pandemie, da habe er „schwere Phasen“ gehabt, was die eigene Motivation betraf; etwa als er während der großen Krankheitswelle im Oktober 2021 „mit absoluter Notbesetzung“ arbeiten musste, zwei Pflegekräften für 54 Patienten. „Da war ich am Anschlag“, erinnert er sich. Was ihn bei der Stange gehalten habe? „Patienten“, sagt Jallal Al-Abtah, „sind immer in einer extremen physischen und psychischen Situation. Und deswegen dankbar für Kleinigkeiten. Das zu erleben ist sehr schön, außerhalb erlebt man es nicht oft.“ Wenn ihn eine Frau anlächele, die er zuvor mit einer Gua-Sha-Massage (asiatische „Schabe-Technik“ zur besseren Durchblutung schmerzenden Stellen) „gequält“ habe, sie ihn vielleicht sogar frage: Krieg ich die morgen wieder? – „Das ist Erfüllung für mich!“
>>>INFO: Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel
Mit „verschiedenen Benefits“ neben dem Tariflohn versuche das Haus Mitarbeiter anzulocken, erklärt Annette Aldick, Pflegedirektorin der Evangelischen Kliniken Essen-Mitte. Anwerbe- oder Umzugsprämien zählten zum „stetig wachsenden Maßnahmenpaket“, genau wie Zulagen für Kräfte, die Arbeitsschichten bzw. den Einsatzort wechseln, spontan einspringen, Dienst-E-Bikes oder vergünstigte Deutschland-Tickets.
„Weiterhin versuchen wir Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen“, so Aldick. „Dazu sind wir im ständigen Austausch mit der Agentur für Arbeit. Dass wir Mitarbeitende aus fast 70 Ländern beschäftigten, erleichtert grundsätzlich die Integration.“ Allerdings lägen gerade im medizinisch/pflegerischen Bereich die Hürden bei Sprache und Fachwissen recht hoch, die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen liefe zudem nicht immer reibungslos und sei zeitaufwendig.
Ein „Baustein gegen den Fachkräftemangel“ seien die 13 Pflegekräfte von den Philippinen, die im März eingestellt wurden. Aldick: „Sie durchlaufen ein umfangreiches Integrationskonzept“, würden fachlich und , schulisch, sowie sozial und administrativ geschult – und dabei intensiv von einem Integrationsmanager begleitet.