Essen. Der Immunologe Prof. Matthias Gunzer erklärt Sinn und Zweck von Tierversuchen – und warum Experimente mit Mäusen für Menschen so wichtig sind.

Wissenschaftler müssten Wissenschaft besser erklären. Findet Prof. Matthias Gunzer, der auch deshalb gern zu Gast war im WAZ-Videotalk: Im Format „„Ruhrgebiet, wir müssen reden“ sprach der Essener Immunologe mit Chefredakteur Andreas Tyrock über die Notwendigkeit von Tierversuchen für die Medizin. Und verriet, warum Schlaganfälle ganz ähnliche Folgen haben, ob nun bei Mäusen oder Menschen. Und wieso Wissenschaftler wissen, dass sie eigentlich gar nichts wissen.

Der 53-Jährige leitet das Institut für Experimentelle Immunologie an der Universität Duisburg-Essen, hat im Ehrenamt zudem einen etwas sperrigen Titel: Er ist Vorsitzender der Kommission für Artgerechte Tierversuche in der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Ein Widerspruch?, fragt ihn Chefredakteur Tyrock: „Tierversuche sind doch abstoßend, wie können sie artgerecht sein?“ Die Forschung, erklärt Gunzer, verwende viel Energie darauf, dass Mäuse und Mulle sich „wohlfühlen“. Man halte sie in speziellen Käfigen, beschäftige Tierhausleiter, „die den ganzen Tag damit beschäftigt sind“, die Haltungsbedingungen zu überprüfen. Tue alles dafür, „dass das Tier nichts mitbekommt“, vor Eingriffen würden sie „betäubt, schlafen tief und fest und kriegen von der Sache an sich nichts mit“.

Gast der WAZ: Der Immunologe Prof. Matthias Gunzer im Funke Media Office in Essen.
Gast der WAZ: Der Immunologe Prof. Matthias Gunzer im Funke Media Office in Essen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Anträge für Tierversuche „mit allergrößter Genauigkeit“

Zu Jahresbeginn hatte der Verein „Ärzte gegen Tierversuche“ den Forscherinnen und Forschern in Essen vorgeworfen, besonders grausame Experimente durchzuführen, die überdies keinen Zweck erfüllten. Ein Irrglaube, erwidert Prof. Gunzer. Jedem Versuch gehe ein ausführlicher Antrag und eine Bewertung durch eine Ethikkommission voran. Es müsse nachgewiesen werden, welche vergleichbaren Experimente weltweit bereits durchgeführt worden sind. Zudem „darlegen dass etwas so noch nie gemacht worden ist“, und das „mit allergrößter Genauigkeit“. Manchmal vergehe bis zur Genehmigung ein Jahr, die Vorschriften seien sehr streng, für Wissenschaftler dennoch eine „hervorragende“ Regelung. „Wenn man den Zweck nicht darlegen kann, gibt es keine Genehmigung und man wird es auch nicht machen.“

Überhaupt werde auch kein Tierversuch leichtfertig eingestielt. „Wir denken immer an die Patienten, für die wir forschen.“ Es gehe nämlich nicht um Befriedigung der eigenen Neugier, es stehe vielmehr immer eine konkrete Anwendung im Hintergrund. Denn das sei der Sinn der Arbeit für die Medizin: das menschliche Abwehrsystem zu verstehen, Therapien gegen Krankheiten zu entwickeln. „Jedes verschreibungspflichtige Medikament und sogar nicht mehr verschreibungspflichtige wie beispielsweise Aspirin sind in Tieren getestet worden.“ Wären die „Ärzte gegen Tierversuche“ also konsequent, meint Gunzer, dürften sie „keine Medikamente verschreiben, die auf die Art und Weise entwickelt worden sind“.

„Banale Infektion kann einen Schlaganfallpatienten umbringen“

Ein Beispiel: In Essen arbeiten die Immunologen an zwei großen Themen, so Gunzer. Neben Krebs sei das der Schlaganfall – weltweit immer noch die Haupttodesursache. Viele Patienten, weiß der Experte, sterben aber nicht am Schlaganfall selbst, sondern an einer nachfolgenden Infektion. Eine „banale Infektion, die gesunde Menschen überhaupt nicht treffen würde, kann einen Schlaganfallpatienten umbringen.“ An Mäusen aber hätten die Wissenschaftler aber herausgefunden, was dafür die Ursache sein kann: „Wir haben verstanden, warum das Immunsystem nach einem Schlaganfall zusammenbricht“ – und habe so auch eine neue Angriffsmöglichkeit für eine Therapie entdeckt.

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Der häufig gemachte Vorwurf, die Ergebnisse seien nicht auf den Menschen übertragbar, weist Prof. Gunzer zurück: „Das stimmt hier überhaupt nicht. Wir haben eine hundertprozentige Deckung der Ergebnisse aus Tieren in Patienten gefunden.“ Anhand einzelner Zellen hätte man die Resultate niemals erhalten können, schon weil man Gehirn- und im Fall der Immunabwehr Darmzellen „nicht gemeinsam in eine Petrischale legen“ könne. „Es gibt keine Alternative, das kann man nur durch Tierversuche lösen.“

Corona-Impfung: entwickelt „in Lichtgeschwindigkeit“

Das gelte auch für die Forschung an Impfstoffen. Die weit vorangekommen ist, wenn man bedenkt: An der spanischen Grippe seien 50 Millionen Menschen auf der ganzen Welt gestorben, „man konnte nichts machen, nicht einmal analysieren, verstehen, wer überhaupt der Gegner ist“. 100 Jahre später kam Corona, und die Wissenschaft, sagt Gunzer, reagierte „in Lichtgeschwindigkeit“: nach vier Wochen der erste Test, nach elf Monaten „komplett neue Impfstoffe“, milliardenfache Immunisierungen – „sensationell, ein leuchtendes Beispiel, was Wissenschaft leisten kann“. Aber dieser Erfolg beruhe „auf Jahrzehnten der Grundlagenforschung, auch mit Tierversuchen“.

Videotalk: WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock im Gespräch mit Prof. Matthias Gunzer von der Uni-DUE.
Videotalk: WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock im Gespräch mit Prof. Matthias Gunzer von der Uni-DUE. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Forscher weiß: „Wir wissen eigentlich noch gar nichts“

Und trotzdem, gibt Matthias Gunzer zu, seien noch viele Fragen offen. „Das System ist unfassbar komplex“, sagt der Wissenschaftler, „wir wissen eigentlich noch gar nichts.“ In jeder winzigen Zelle so viele Abläufe, und das milliardenfach in einem Körper: „Wir haben noch immer keine Vorstellung, was genau sich da abspielt. Wir kratzen an der Oberfläche, haben noch lange nicht komplett verstanden.“ Geschätzt gebe es auf der Welt 30.000 Erkrankungen, aber nur für 8- bis 10.000 davon bislang Therapien. Bei bestimmten Hirntumoren oder Krebsarten der Bauchspeicheldrüse könne man bis heute „nichts, überhaupt nichts tun“. Es ist dem Forscher anzumerken, dass ihn das umtreibt: „Wir haben noch sehr viele Baustellen, wir sind noch nicht am Ende.“

Umstrittene Forschung: Im Keller der Uni-DUE werden Nacktmullen gehalten.
Umstrittene Forschung: Im Keller der Uni-DUE werden Nacktmullen gehalten. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Derzeit arbeiten Wissenschaftler an Immuntherapien: fertigen Antikörpern, die wie ein Medikament wirken und dem Immunsystem helfen können, Krebs auszubremsen. Zudem an Impfungen gegen Krebs, erste Erfolge sind schon da, „vielleicht geht das jetzt sogar schneller“. Denn die Herausforderungen werden nicht weniger. Bis heute verstehe man nicht gänzlich, sagt Gunzer, „warum wir gegen HIV nicht impfen können“. Die Forschung aber habe inzwischen eine Batterie von Wirkstoffen, die auch gegen andere Infektionen helfen könnten. Und, da macht er sich keine Illusion: „Die nächste Pandemie ist um die Ecke, wir müssen darauf gefasst sein.“

Atomphysik mit Äpfeln und Birnen erklären

Auch deshalb müsse man weiter forschen – und diese Forschung erklären. Kollegen, die lieber schweigend im Labor bleiben und sagen, ihr Arbeit sei zu kompliziert, entgegnet Gunzer gern: „Dann hast du es selbst nicht richtig verstanden.“ Jeder könne Bilder finden, die Wissenschaft für Laien verständlich machen. „Man kann auch Atomphysik mit Äpfeln und Birnen erklären. Das sollte unser Anspruch sein.“ Gunzer will „erklären, was wir tun. Wie wir es machen und warum“.

Im Ruhrgebiet, findet der Institutsleiter, gebe es dafür „großartige Möglichkeiten, Super-Unis, ein unfassbares Potenzial“. Weil man natürlich versuche, möglichst wenige Tiere zu nutzen für Versuche, müsse man zum Beispiel „aus einem Experiment möglichst viel Information“ gewinnen. Dafür, erzählt Gunzer, brauchten sie in Essen ein besseres Mikroskop. Hundertfach besser. „Da sind wir im Ruhrgebiet richtig gut, wir können sowas bauen!“ Und haben es also gemacht – und so die Anzahl von Tieren massiv reduziert.

Ruhrgebiet, wir müssen reden! Der Talk mit Andreas Tyrock

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