Hattingen/Siegen/Düsseldorf. Die Razzien gegen die ‘Ndrangheta haben auch Strukturen offengelegt: Eine Eisdiele dient als Stützpunkt, und Kuriere arbeiten wie Dienstleister.
Mit koordinierten Durchsuchungen und Festnahmen sind Sicherheitsbehörden in zehn Ländern am Mittwoch gegen die kalabrische Mafia-Organisation ‘Ndrangheta vorgegangen. In Nordrhein-Westfalen stehen zwei Komplexe im Fokus: Mit Eisdielen in Siegen und Bedburg soll das organisierte Verbrechen strategische Stützpunkte in NRW unterhalten haben, die zur Geldwäsche, für die Logistik, als Rückzugsorte für Flüchtige und als Ausbildungsstätten für den kriminellen Nachwuchs dienten. Im Raum Hattingen wurde zudem ein 62-Jähriger festgenommen, den Ermittlern zufolge Kopf einer Gruppe, die unter anderem Drogenschmuggel als Dienstleistung angeboten haben soll – für die ‘Ndrangheta, aber auch für weitere italienische und albanische Gruppen.
Allein in NRW durchsuchten rund 500 Beamte 51 Wohnungen, Häuser und Büros. Sie vollstreckten insgesamt 18 Haftbefehle, zwei davon in und um Düsseldorf für die italienischen Behörden. Im Ruhrgebiet schnappte die Polizei Verdächtige in Castrop-Rauxel, Hagen, Hattingen und Velbert. Es habe bei den Razzien keinen Widerstand gegeben, sagte eine Sprecherin des NRW-Landeskriminalamtes. Im Komplex Siegen sind insgesamt 35 Personen beschuldigt, im Raum Hattingen sind es 17. In Deutschland gab es zudem vier Durchsuchungen im thüringischen Erfurt, beteiligt waren auch die Kriminalämter von Bayern und Rheinland-Pfalz sowie des Saarlandes und des Bundes. International wurden 132 mutmaßliche ‘Ndrangheta-Mitglieder festgenommen: in Belgien, Italien, Frankreich, Portugal, Slowenien, Spanien, Rumänien, Brasilien und Panama.
Selbst Autowerkstätten bieten „crime as a service“
Vorausgegangen waren in NRW drei Jahre akribischer Ermittlungsarbeit, in denen die „EK Eureka“ ein Netzwerk auf Kokain-Kurieren stieß, die nach dem Prinzip „crime as a service“ arbeiteten, auf eine spanische Autowerkstatt, die sich auf den Einbau ausgetüftelter hydraulischer Verstecke spezialisiert hatte. Auf ein Inkassounternehmen im Raum Hattingen, das als Schlägertruppe auch Mitwisser zum Schweigen bringen sollte. Auf ein Firmengeflecht zu dem Bauunternehmen genauso gehörten wie Restaurants und ein Angel-Paradies in Ennepetal, mit dem Drogengelder gewaschen werden sollten.
Die Ermittler von Landeskriminalamt und ZeOS NRW (Zentral- und Ansprechstelle für die Verfolgung Organisierter Straftaten) gewannen Einblicke in eine Organisation, die letztlich auch auf Verwandtschaftsbeziehungen basiert. So sollen die Brüder (36 und 38), die das Eiscafé in Siegen führten, entfernt verwandt sein mit Maria Strangio-Nirta, die Weihnachten 2006 im italienischen San Luca erschossen wurde – ein Kulminationspunkt der Familienfehde, die zu den sechs Mafia-Morden von Duisburg im Jahr 2007 führte. Einer der Brüder wurde denn auch am Mittwoch im italienischen San Luca festgenommen. „Siegen ist nicht San Luca“, kommentiert Landesinnenminister Herbert Reul (CDU). „Aber was wir nicht dulden, ist, wenn die Eisdiele eine Geldwaschanlage ist.“
Eine der gefährlichsten Mafia-Gruppen
Die ‘Ndrangheta ist nach Einschätzung des Bundeskriminalamtes (BKA) derzeit die „relevanteste Mafia-Gruppierung“ mit einer dominanten Stellung auf dem europäischen Kokainmarkt. „Sie versucht, ihr Territorium auszuweiten und Einfluss auf kalabrische Migrantengemeinschaften auszuüben“, erklärte das BKA. Den Beschuldigten wird unter anderem Geldwäsche, bandenmäßige Steuerhinterziehung, gewerbsmäßiger Bandenbetrug sowie Rauschgiftschmuggel vorgeworfen.
In NRW ist die Zentral- und Ansprechstelle für die Verfolgung Organisierter Straftaten in Nordrhein-Westfalen (ZeOS NRW) zuständig. Auch in Thüringen, Bayern, Rheinland-Pfalz und dem Saarland laufen zeitlich Einsätze. Zudem es Razzien in Belgien, Frankreich, Italien, Portugal, Rumänien, Slowenien und Spanien.
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Erst Mitte Januar konnte Siziliens meist gesuchter Mafiaboss festnehmen, nachdem er 30 Jahre lang untergetaucht war. Einen Großteil der Zeit soll Matteo Messina Denaro, dem über 50 Morde zur Last gelegt werden, in einem Luxus-Versteck verbracht haben. Erst als ihn ein Tumor im Bauch zu regelmäßigen Besuchen in Krankenhäusern zwang fanden die Ermittler wieder seine Spur – trotz falscher Identität. Der Fall zeigt, mit welch hohem Aufwand die Behörden gegen die organisierte Kriminalität vorgehen müssen, um Erfolge zu erzielen.
So hat auch der Mammutprozess um die sechs Duisburger Mafiamorde im Jahr 2007 noch keinen Abschluss gefunden. Der Haupttäter Giovanni Strangio ist zwar 2009 in Amsterdam verhaftet worden und dann in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Aber 14 mutmaßliche Mitglieder der ‘Ndrangheta stehen bereits seit Oktober 2020 vor Gericht – aus Sicherheitsgründen in einem besonders gesicherten Trakt des Düsseldorfer Landgericht. Die Ermittlungen zeigten damals, dass die ’Ndrangheta insbesondere in Nordrhein-Westfalen feste Stützpunkte unterhält. Gelder werden unter anderem über Baufirmen gewaschen, wo zudem massiv Schwarzarbeiter eingesetzt werden. Schon damals fanden sich Verbindungen nach Erfurt in Thüringen, wo nun auch eine Razzia stattfand.