Dorsten. Der Dorstener Sozialpädagoge Jörg Knüfken lässt „unbeschulbare“ Schüler Tagebuch führen. Ein Projekt mit ungeahntem Erfolg

Nein, das „Team Zukunft“ hatte keinen guten Start. Nach dem ersten Treffen mit den 14 Schülern, die die Lehrer der Dinslakener Volksparkschule als „die schlimmsten“ aussortiert hatten, wollte Jörg Knüfken, Leiter ihrer Nachmittags-AG, „nur noch weg“. Pipelines hatte der Sozialpädagoge mitgebracht, fürs Team-Building: Kooperations-Spielzeug in Röhrenform. Die Achtklässler prügelten damit aufeinander ein, laut schreiend, in einer Sprache, die Knüfken nicht verstand, 90 Minuten lang. „Es war furchtbar“, notierte er später, beschloss: Mit denen guck’ ich nur noch Filme.

Ich fürchte, dass Gott uns irgendwann fragen wird, warum wir so waren... Ich weiß nicht, was ich dann sagen werde.*

Gestern Abend wurde Jörg Knüfken als Talentförderer ausgezeichnet. Weil die Geschichte der AG, des ersten „Teams Zukunft“, die 2009 so unglücklich begann, ein glückliches Ende nahm; weil sie andauert, selbst wenn 13 der 14 „unbeschulbaren“ Jugendlichen von damals zwei Jahre später stolz, mit Abschluss, die Schule verließen. Weil Jörg Knüfken zur zweiten Stunde tatsächlich einen Film mitbrachte – und 15 Tagebücher.

Auf der Suche nach dem Film nämlich stößt der heute 49-jährige Dorstener auf einen mit dem Titel „Freedom Writers“: die wahre Geschichte der Lehrerin Erin Gruwell, die 1994 in Kalifornien Ghetto-Kids auf den rechten Weg hilft – indem sie ihnen autobiografisches Schreiben nahebringt. „Wenn die die Waffe weglegen und zum Stift greifen, muss das auch im Ruhrgebiet möglich sein“, sagt sich Knüfken. Tatsächlich ist es erstaunlich ruhig, als er den Film zeigt und anschließend Tagebücher verteilt. Die Luxusversion für zehn Euro das Stück hat er gekauft, „mit Zettelfach“. Gerührt beobachtet er, wie eine Schülerin andächtig über den seidigen Einband streicht.

Es gilt der Deal: Willst du mich lesen, darf ich dich lesen. Auch der Lehrer führt Buch über das Projekt. Eine Seite pro Woche sollen die Schüler schreiben. Erstes Thema: Dein schlimmstes Erlebnis.

Knüfken bucht einen Türkisch-Kurs, seine Schüler verstehen lernt er über die Tagebücher. Alle schreiben, „merkwürdigerweise, von Anfang an“. Alle lassen ihn lesen, was sie schreiben. Vom Vater, der sie bis zur Bewusstlosigkeit prügelt; von der Mutter im Rollstuhl, die nur noch weint; vom Jugendamt, das plötzlich vor der Tür steht, um die vier Geschwister abzuholen, sie in vier verschiedene Heime bringt; vom Suizid des Freundes. „Ich war erschüttert“, erzählt Knüfken, selbst „behütet“ aufgewachsen, selbst Vater zweier Söhne (9, 10).

Meine Seele zerbricht. Ich kann einfach nicht mehr... Meine Arme sind voller Narben... Nur wenn ich das Blut fließen sehe, ist es eine Befriedigung... *

„Entscheidend war wohl“, glaubt der Pädagoge heute, „dass die Schüler merkten, wie sehr sie mich beeindruckten. Das gaben sie zurück.“ Nicht alles war plötzlich „Gold“. Aber die „Gegeneinander-Stimmung“ war verflogen.

Ich fühl mich gut hier (im Team), das lenkt ... von der Scheiße ab, die mir sonst durch den Kopf geht.*

Die Schüler fassen langsam Vertrauen. Der Junge etwa, der schreibt, am Tag, als die Polizei gekommen sei, um den Vater in den Knast zu bringen, sei sein Leben verwirkt gewesen, glaubt Knüfken, als der ihn „stark“ nennt, denn: „ Hast DU dich nicht seither um deine Familie gekümmert?“

Der nächste Meilenstein ist eine Skype-Konferenz mit Erin Gruwell, der Freedom-Writers-Lehrerin. Ein Erlebnis, das die Gruppe umhaut. Danach ist klar: Wir schreiben unser eigenes Buch. Zur ersten Präsentation in Lohberg kommen 150 Leute. „Völlig schräg“, finden die Schüler, „dass sich so viele Menschen für uns interessieren.“ Es folgen: viele weitere „Teams Zukunft“ – 200 Tagebücher sind inzwischen gefüllt; Dutzende weitere Lesungen – viele vor Menschen, „die sonst die Straßenseite wechseln, wenn sie auf meine Schüler treffen“, sagt Knüfken.

Samstag ist mir etwas Unglaubliches passiert; Ich bin aufgestanden und hatte ... Bock auf Schule.*

Irgendwann kommt Erin Gruwell persönlich nach Dorsten, um die Dinslakener Schüler zu treffen – und Knüfken in die USA einzuladen, zu einer Ausbildung als Freedom-Writers-Lehrer. Seit drei Wochen ist der Dorstener ganz raus aus dem Schulbetrieb. Nicht weil er mit dem System hadert, obwohl „da vieles schief läuft“, wie der 49-Jährige glaubt. Er selbst verließ nach der elften Klasse das Gymnasium („Wir haben es lange versucht, aber wurden nie Freunde!“). Erst übers Fachabi kam er zum Studium. Inzwischen engagiert sich Knüfken hauptberuflich für seinen Verein Schreibmodus (Freischreiber). Über ihn will er die Tagebuch-Idee verbreiten, in Workshops vor allem Multiplikatoren ausbilden.

Frühere Schüler sind als Co-Moderatoren immer dabei. Viele von ihnen lernten nach ihrem Hauptschulabschluss weiter. Andere wurden Koch oder Frisör. Alle Vorbilder, sagt Knüfken: „Auch der 14. Schüler übrigens, der damals den Abschluss nicht packte, hat heute einen guten Job!“ Einige führen noch immer Tagebuch. Und eine schreibt an ihrer Autobiografie.