Ruhrgebiet. In diesem Frühjahr nisten im Ruhrgebiet so viele Störche wie seit Menschengedenken nicht mehr. Der Naturschutz hilft - und das gemachte Nest.
Wenn Peter Prüsener in seinem Büro zum Fernglas greift, hat er das Storchennest ganz nah vor Augen; es steht noch leer, schade. Vor fünf Tagen ist ein Storchenpaar hier gelandet, vielleicht 100 Meter vom Büro entfernt; es hat sich entschlossen umgeschaut und ist dann doch weitergezogen. Doch zuletzt hat Prüsener noch eine andere Interessentin im Nest entdeckt: eine Gans. „Ob die da bleiben möchte, weiß ich natürlich nicht“, sagt der Gelsenkirchener Garten- und Landschaftsbauer. Seit neuestem baut er auch Nester. Storchennester. Freilich nicht beruflich.
Zwei hat der 43-Jährige mit seinen Töchtern bisher gebaut und im Norden der Stadt aufgestellt. Aus Reisig, Durchmesser anderthalb Meter, angebracht auf einem eigens angeschafften Telegrafenmast und weiß gesprenkelt. Das ist ein bisschen gemein, denn das Weiße hält der Storch für Spuren von Kot von anderen Störchen, die anscheinend früher hier nisteten - und fasst dann eher Vertrauen, dass sich offenbar in dem Nest leben lässt.
„Die Erwartungshaltung ist groß, viele werden sich riesig freuen“
Ob sich noch in der laufenden Brutzeit ein Paar hier niederlässt, ob in der nächsten, das ist zweitrangig. Der Storch ist jedenfalls zurück. Mitten im Ruhrgebiet. Nicht nur in Gelsenkirchen-Resse. In Witten hat sich gar ein Paar zum Brüten niedergelassen, das erste jemals, wie es heißt, also zumindest seit Menschengedenken.
Ein Ei scheint gelegt zu sein, heureka, berichten biologische Beobachter zuletzt: Denn die Elterntiere lassen das Nest seit Tagen nicht mehr aus den Augen, aus dem Sinn. „Die Verhaltensweise der Vögel spricht eine deutliche Sprache“, sagt Gerhard Sell von der Naturschutzgruppe Witten (Nawit): „Die Erwartungshaltung in der Bevölkerung ist groß. Viele werden sich riesig freuen.“
In Duisburg und im Kreis Recklinghausen Storchenpaare in Rekordzahl
Freilich helfen sie auch überall nach, damit der Vogel sich ins gemachte Nest setzen kann. In Gelsenkirchen hat Peter Prüsener sie gebaut, in Witten die Nawit sie aufgestellt, in Bochum die Stadt. Auch dort in den Ruhrauen stehen nun zwei Masten und harren der Vögel. Störche im Überflug waren hier in den letzten Jahren schon häufiger zu sehen, wie auch am Himmel über Gelsenkirchen - nun sollen sie gefälligst auch bleiben.
Im Kreis Recklinghausen zählen Naturschützer zur Zeit 38 Paare - Rekordniveau. „In den Lippeauen reihen sich die Weißstorch-Quartiere von Waltrop bis Dorsten wie an einer Perlenschnur auf“, sagt der Biologe Niels Robbrock. In den Rheinauen von Duisburg-Walsum siedeln derzeit mindestens acht Paare, auch das ein Höchststand. Die Rückkehr der praktisch ausgestorbenen Störche ist eine große Erfolgsgeschichte, wobei Mäuse, Frösche oder Regenwürmer das vermutlich anders sehen.
Erst 2005 nistete wieder ein erstes Paar am Rand des Ruhrgebiets
In den 1960er-Jahren gab es bei uns Störche überhaupt nur noch in Ostdeutschland. Aber dann . . . 1990: drei Paare in Ostwestfalen. 1996: erstes Paar am Niederrhein. 2000: ein paar Dutzend in ganz NRW. 2005: erstes Brutpaar im Ruhrgebiet, in Dorsten. 2020 dann: 450 Paare in NRW. Und 2022 gar: 700 Paare. Nein, Mäuse, Frösche oder Regenwürmer sehen das mit der Erfolgsgeschichte ganz sicher anders. Wirklich schlimm für sie ist auch: Störche kehren immer wieder zu demselben Nistplatz in Deutschland zurück.
„In der Bevölkerung sind Störche beliebt, die Menschen beobachten sie gern“, sagt die Biologin Stefanie Heese vom Naturschutzbund Niederrhein. Sie kennt die Gründe für die Rückkehr der Störche, ausländische Gründe, einheimische Gründe, gute Gründe.
„In unseren Gefilden ist es deutlich wärmer geworden“
Viele Störche fliegen demnach nicht mehr bis Afrika, sondern überwintern in Spanien. Dort findet sich leichter Nahrung, und die Wintersterblichkeit der Störche ist stark gesunken. Das gilt auch für Deutschland. Jürgen Hinke, der Vorsitzende des Naturschutzbundes Duisburg, sagt: „In unseren Gefilden ist es deutlich wärmer geworden.“ Da sterben nicht mehr so viele Jungstörche an Kältewellen im Frühjahr. Und „weil es viel mehr Naturschutzgebiete gibt, gibt es auch mehr Nahrung“.
Jedenfalls hat der Garten- und Landschaftsbauer Prüsener nun schon „etliche Anfragen von Leuten, denen wir auch ein Storchennest bauen sollen“. Zunächst aber wünscht er sich, dass sich ein Paar auf dem Telegrafenmast bei seinem Büro niederlässt. Mehrmals täglich greift er zum Fernglas und schaut, ob da nun endlich wer wohnt. „Von mir aus auch die Gans.“ Man sagt ja auch: Lieber die Gans in der Hand als den Storch auf dem Dach.