Essen. Mord und Totschlag waren ihr Geschäft. 20 Jahre leitete Staatsanwältin Birgit Jürgens die Essener Kapitalabteilung. Jetzt geht sie.

Dem Tod blickt sie regelmäßig ins Auge. Etwa zweimal in der Woche nimmt sie an Obduktionen teil, schaut zu, warum ein Mensch ums Leben gekommen ist. Es ist ihr Beruf. Birgit Jürgens, die seit 20 Jahren bei der Essener Staatsanwaltschaft die Abteilung für Mord und Totschlag leitet, beendet in diesen Tagen die Arbeit für ihre Behörde, nimmt Abschied von der Nähe zum Tod. Ihr künftiger Ruhestand ist Anlass, auf die spektakulären Verbrechen zurückzublicken.

Es war nicht nur Arbeit. Sie hatte den Job gefunden, den sie auch im Rückblick wieder ergreifen würde. Dass sie ihn mit Freude erledigt hätte, dieses Wort verbietet sich angesichts der vielen menschlichen Trauer. „Aus Überzeugung“, formuliert die 65-Jährige. „Ich war immer zufrieden mit meiner Aufgabe“, sagt sie und betont, dass sie sich bei der Essener Anklagebehörde wohl gefühlt habe.

Zunächst wollte sie Chemie studieren

Sie kommt aus keiner Juristenfamilie. Der Vater war Schriftsetzer, die Mutter Buchbinderin. Sie selbst wollte nach dem Abitur eigentlich Chemie studieren. Beeinflusst von einer Freundin hatte sie sich doch für Jura entschieden und landete in Marburg. Dort hatte die juristische Denkweise sie schnell angesprochen. Sie bevorzugte das Strafrecht und wechselte später nach Münster.

Dort lernte sie ihren Mann kennen. Weil er in Münster gearbeitet hatte, blieben sie im Münsterland. Sie musste deshalb jeden Tag ins Ruhrgebiet nach Essen pendeln.

Abrechnungsbetrug durch Ärzte ermittelt

1991 fing sie in der Essener Staatsanwaltschaft an. Nach kurzer Zeit bekam sie die Ermittlungen gegen Ärzte zugeteilt, die bei der Abrechnung betrogen hatten. Schon damals zeigte sie sich hartnäckig und ließ sich von akademischen Weihen oder der Arroganz eines Halbgottes in weiß nicht beeindrucken.

„Die letzte Christenverfolgerin“, so nannte sie damals ein Strafverteidiger. Das hatte er nur im kleinen Kreis gesagt. Als sie die Bezeichnung heute hört, muss sie lachen.

Hartnäckige Strafverfolgerin

Mit ihrem Image als hartnäckige Strafverfolgerin kann sie leben. „Ich hoffe nicht, dass ich altersmilde geworden bin“, betrachtet sie ihre Haltung positiv. Unter dieser mussten ab 1994 die Räuberbanden leiden, als sie in die Abteilung für Organisierte Kriminalität wechselte. Dabei denkt sie an die Gang um Lothar B., der vor Gericht auf die Frage nach seinem Beruf schon mal „Einbrecher“ angab.

Die Bande hatte sich auf Juweliergeschäfte spezialisiert, deren Scheiben sie nachts mit einem Vorschlaghammer einschlug, um den Schmuck abzuräumen. Als die Herren älter und schwächer wurden, nahmen sie LKW und fuhren mit herabgelassener Ladeklappe rückwärts in die Fenster. Lange Jahre Haft und Sicherungsverwahrung gab es.

Seit 2003 Leiterin der Kapitalabteilung

Nach mehreren weiteren Stationen und der Beförderung zur Oberstaatsanwältin übernahm sie 2003 die Leitung der Kapitalabteilung. Immer, wenn ein Mensch eines unnatürlichen Todes starb, musste sie ermitteln. Musste entscheiden, ob gegen einen Verdächtigen Anklage erhoben wird. Und ob sie nach der Hauptverhandlung auf Verurteilung oder Freispruch plädieren sollte.

Natürlich hat sie den Leitsatz verinnerlicht, dass ein Staatsanwalt auch Entlastendes für einen Verdächtigen ermitteln muss. Sie will ja nicht einen Unschuldigen vor Gericht sitzen haben und den wahren Täter unbehelligt lassen. Aber meist reichten ihr die Beweise für eine Verurteilung aus, auch in schwierigen Indizienprozessen.

Baby aus dem Leib geschnitten

Welche Fälle sich ihr am stärksten eingeprägt haben? Da fällt ihr Arkadius L. ein, der am 7. Juni 2015 zunächst seine hochschwangere Freundin getötet hatte und ihr anschließend das ungeborene Kind aus dem Leib schnitt. „Wegen der Grausamkeit“ ist er in Erinnerung geblieben.

Das trifft auch auf Günther O. zu, der 2014 seine Stieftochter Madeleine erstickt und in seinem Kleingarten unter Erde und Beton verbuddelt hatte. Jahre zuvor hatte er sie geschwängert. Auch er bekam lebenslange Haft.

Der Dunkin-Donuts-Mörder

Schließlich der aus dem Sauerland stammende Ralf G., der schon 1981 und 1989 eine Frau ermordet hatte und jeweils vor Gericht billig davongekommen war. Am 9. Dezember 2007 erdrosselte er in Essen die junge Leiterin einer Dunkin-Donuts-Filiale. Die schwierige Indizienlage reichte aber auch da für eine lebenslange Haft und Sicherungsverwahrung.

Es war sicher auch das Verdienst von Birgit Jürgens, diese Täter zu überführen. Im Sitzungssaal lässt sie sich für die Sache auch schon mal auf einen Kampf mit dem Verteidiger ein.

Keinesfalls will sie, wie manche pensionierten Richter oder Staatsanwälte, sich künftig als Rechtsanwalt niederlassen und Straftäter verteidigen. Ihre Position ist eindeutig: „Das käme mir vor wie Hochverrat.“

Info

Die Kapitalabteilung gilt als die wichtigste einer Staatsanwaltschaft, weil sie bei Straftaten gegen das Leben ermittelt. Sie arbeitet sehr eng mit der Polizei zusammen.

Räumlich gehören zur Essener Staatsanwaltschaft die Städte Haltern, Dorsten, Marl, Bottrop, Gladbeck, Gelsenkirchen, Essen, Hattingen und Sprockhövel.

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