Ruhrgebiet. Aus der Corona-Auszeit kommt der Karneval verändert. Die Narren, klagen Büttenredner, „wollen nur noch Events, Krach und Remmi-Demmi“.

Es muss wohl im Festzelt von „Immer lustig Holt“ gewesen sein, erinnert sich Bodo Krohn: Der Abend ist spät, die Karnevalssitzung fortgeschritten laut, ein Helfer begleitet die Büttenrednerin Achnes Kasulke aus der Garderobe zur Bühne. Vermutlich will er ihr Mut machen, aber der Satz verunglückt schwer: „Wir wollen es noch mal mit einer Rede versuchen.“ Versuchen. Mit einer Rede. Das zu Achnes Kasulke, Kunstfigur, Putzfrau - und seit 17 Jahren eine Größe im rheinischen Karneval.

„Die Motivation war natürlich toll“, ärgert sich Krohn, ihr Manager. Achnes habe dennoch „das Zelt zum Stehen gekriegt“. Aber das grundsätzliche Problem kennt auch er: den schleichenden Tod des klassischen Sitzungskarnevals mit seinen Reden, Tanzgruppen und Ordensverleihungen. Bei „Immer lustig“ treten am morgigen Freitag die Mallorca-Geschöpfe Mia Julia und Mickie Krause auf. „Fun-Nacht“ statt Karnevalsfreitag. Ballermann statt Büttenrede.

Mit Werbung wie „Geilster Karneval am Niederrhein“

Anette Esser in ihrer Paraderolle als Achnes Kasulke bei der Aufzeichnung der ARD-Fernsehsitzung 2023 im Gürzenich.
Anette Esser in ihrer Paraderolle als Achnes Kasulke bei der Aufzeichnung der ARD-Fernsehsitzung 2023 im Gürzenich. © IMAGO/Panama Pictures | imago stock

Im Karneval in Kamp-Lintfort werden im Karnevalsprogramm rund um dieses Wochenende männliche Stripper erwartet und Tänzerinnen aus dem Mega-Park, die auf Verkleidung ebenfalls weitestgehend verzichten; angekündigt sind eine „DJ Battle“, „Schlagerfans in Ekstase“, Ina Colada, Olaf Henning, Frenzy Blitz, Schürze . . . Schürze? Ja klar, von „Layla“. Bis zur Werbung „Geilster Karneval am Niederrhein“ war es da nur noch ein ganz kleiner Schritt.

Und das ist kein Einzelfall. „Die Leute sind am klassischen Sitzungskarneval nicht mehr interessiert. Sie wollen Events, Krach und Remmi-Demmi“, sagt der Redner und Kabarettist Wolfgang Trepper aus Duisburg, der seinen Rückzug angekündigt hat: „Wer zwei Stunden nach dem Start einer Herren- oder Damensitzung auf die Bühne geht, ist schon ein Masochist.“

Die Initiative „Ruhe im Saal“ hat schon viele Unterstützer gefunden

Und einer seiner Kollegen beschreibt als seinen häufigen Eindruck aus der Bütt, „dass im Saal eine Gegenveranstaltung stattfindet“. Auch die Tanzgruppen fänden weniger Aufmerksamkeit: „Das ist nicht schön für die Mädchen, die wirklichen Hochleistungssport zeigen.“

Was ist da los? Andreas Jörissen, ein Sitzungspräsident aus Krefeld, hat die Initiative „Ruhe im Saal“ gestartet, die man von einem Karnevalisten jetzt nicht direkt erwartet hätte. Inzwischen findet der Internet-Auftritt ruhe-im-saal.de Vereine in ganz Deutschland, die ihn unterstützen, darunter „Alle Mann an Bord 1955 Duisburg“, „Grün-Weiß Gevelsberg“ oder „Die Jecken vom Pütt Gelsenkirchen 2011.“ Zollt den Rednern Respekt, fordert Jörissen, und wenn sie nicht gefallen, geht halt mal raus.

„Die Gesellschaft ist nur noch kurze Zeit aufnahmefähig“

„Der gesellschaftliche Trend zu einem Mangel an Konzentrationsfähigkeit hat den Karneval erreicht“, sagt Jörissen in der „Rheinischen Post“: „Die Gesellschaft ist unruhiger geworden und nur noch kurze Zeit aufnahmefähig.“ In manchen Sitzungen sei der Party-Anteil so hoch, dass „das klassische Repertoire des Karnevals verlorenzugehen“ drohe.

Bodo Krohn hat noch einen anderen Punkt: „Das Publikum hat sich extrem verjüngt. Das ist ja auch Wunsch der Veranstalter. Und die jungen Leute wollen Party.“ Früher seien auf einer Prunksitzung vier Männer und Frauen in die Bütt gestiegen, „heute zwei, und der zweite hat’s schon schwer“.

Das hintere Drittel im Saal ist schon immer eine Problemzone

Kersti I., Karnevalsprinzessin in Herne, erklärt sich das Verhaltem vieler Leute mit Nachholbedarf: „Die Leute kommen nach drei Jahren endlich mal wieder zusammen.“
Kersti I., Karnevalsprinzessin in Herne, erklärt sich das Verhaltem vieler Leute mit Nachholbedarf: „Die Leute kommen nach drei Jahren endlich mal wieder zusammen.“ © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Nun gab es immer laute Sitzungen: Das hintere Drittel im Saal ist traditionell eine geschwätzige Problemzone! Auch steht dort gern die Garde des heimischen Vereins und prostet sich zu auf den gelungenen Auftritt soeben. Und schlechte Redner gibt es natürlich auch schon immer, die am Saal vorbeireden. Der ist sich dann schnell selbst genug.

Die amtierende Karnevalsprinzessin von Herne, Kersti I., möchte die Debatte aber auch nicht zu hoch hängen. „Die Leute kommen nach drei Jahren endlich mal wieder zusammen. Die haben Nachholbedarf“, sagt sie. Und ihr Präsident in der „1. Hekage“, Klaus Mahne, sagt: „Es kommt auf die Qualität der Rede an.“ Aber Tatsache ist auch: Die (semi)professionellen Redner und Rednerinnen, von denen man Qualität erwarten darf, werden weniger - sie werden ja auch weniger besetzt.

Zehn Liter Freibier für jede größere Besuchergruppe

Nach den langen Corona-Jahren reden tatsächlich viele Karnevalisten von einer „Super-Session“. Weil die Menschen, die kommen, entschlossen sind, Spaß zu haben. Krisenzeichen mehren sich jedoch in den hinteren Reihen, die „manchmal nicht sooo voll sind“, wie es in Düsseldorf heißt. Und vom Niederrhein kommen vereinzelt Nachrichten abgesagter oder verlegter Sitzungen.

Wie man dem beikommt? In Mönchengladbach so: Dort hat ein Verein, als die Nachfrage nach der Herrensitzung stockte, zehn Liter Freibier für jede Gruppe ausgelobt, die mit elf Leuten kommen würde. „16 solcher Tische haben wir verkauft, die Idee hat geholfen“, sagt der Präsident.

Zu „Ruhe im Saal“ dürfte das Freibier nicht unbedingt beigetragen haben. Und man muss ja auch sagen: Als Aufforderung an Karnevalisten klingt „Ruhe im Saal“ schon sehr, sehr gewöhnungsbedürftig. Weniger nach Narretei. Eher schon nach Gedenkveranstaltung.