Bochum. Neun Jahre Haft und Sicherungsverwahrung bekam der Mann, der Marvin jahrelang missbrauchte. Doch nun steht der Mann schon wieder vor Gericht.
Erleichtert war Marvin im September 2021: Das Urteil gegen den Mann, der den Jungen aus Duisburg 1000 Tage bei sich versteckt und ihm beinahe täglich sexuelle Gewalt angetan hatte, würde ein „Abschluss“ sein, endlich. Doch seit Donnerstag ist der Fall erneut vor Gericht. Über die Sicherungsverwahrung für den 47-jährigen Täter aus Recklinghausen muss nach einem Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) neu verhandelt werden.
Als alles begann, 2017, war Marvin noch ein Kind. Bald sechs Jahre ist es her, dass der Junge verschwand, mehr als drei, dass die Polizei ihn zufällig fand: bei seinem Peiniger im Kleiderschrank. Gesucht hatte sie damals kinderpornografische Bilder, der Mieter der Wohnung war einschlägig vorbestraft. Bald zwei weitere Jahre hat es gedauert, bis es ein Urteil gab am Bochumer Landgericht, neun Jahre für den Mann, der sich Nacht für Nacht an dem Jugendlichen verging. Die anschließende Sicherungsverwahrung aber wurde im August darauf höchstrichterlich kassiert. Marvin ist darüber volljährig geworden.
BGH: Schuldzuweisung ist „zulässige Verteidigungs-Strategie“
18 Jahre alt, und der junge Mann hat immer noch Angst. Allein der Gedanke, sagt seine Anwältin, dass er ein weiteres Mal aussagen müsse, habe ihren Mandanten „getriggert“. Aber das muss er nicht. Die 3. Strafkammer am Bochumer Landgericht, die den neuen Prozess nun von der 8. übernommen hat, hat zwar eine Reihe von Zeugen geladen, das Opfer aber ist nicht darunter. Strittig ist auch nicht das Strafmaß, die neun Jahre Haft haben Bestand. Es geht um die anschließende Sicherungsverwahrung, die Marvin so wichtig war: „Damit er keinem mehr etwas antun kann.“
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Das Landgericht Bochum hatte dafür einen „Hang zu gefährlichen Straftaten“ festgestellt sowie „ein ausgeprägtes pädosexuelles Interesse“ und die „Gefährlichkeitsprognose“ vor allem damit begründet, dass der Angeklagte in seiner Einlassung die Schuld dem Opfer zugeschoben habe und sogar die Rollenverteilung zwischen Täter und Opfer umkehrte. Tatsächlich hatte der heute 47-Jährige behauptet, der Junge habe ihn manipuliert, er habe sich nicht gegen ihn wehren können. „Es war alles Marvins Idee.“
Anwältin: Marvin, inzwischen 18, ist auf einem guten Weg
Das aber, findet der 4. Strafsenat des BGH, sei Verteidigungs-Strategie und dürfe nicht als Beweis dafür dienen, dass der Täter weiterhin gefährlich bleibt. „Wenn der Angeklagte zu seiner Verteidigung die ihm zur Last gelegten Taten leugnet, bagatellisiert oder einem anderen die Schuld zuschiebt, ist dies grundsätzlich zulässig“, schrieben die Richter Ende August und gaben der Revision in dieser Hinsicht statt. Möglich ist, dass die 3. Strafkammer nun eine neue Begründung für eine Sicherungsverwahrung findet.
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Zu Beginn des neuen Prozesses musste der Staatsanwalt am Donnerstag den Beschluss aus Karlsruhe verlesen, zuvor aber auch das Urteil. Und die gesamte mehr als 50-seitige Anklage. Vieles ist dabei wie im Sommer 2020: Der 47-Jährige trägt T-Shirt über dem Bauch, liest hinter seiner kleinen Brille mit, zeigt keine äußerliche Regung. Nur der Saal ist kleiner – und ein Wörtchen anders: Er wird nicht angeklagt, er „wurde“. Sein Opfer, dessen Name wieder Hunderte Male durch den Raum fliegt, wird diesmal nicht kommen. Marvin ist laut seiner Anwältin „auf einem guten Weg“.