Bochum. Die Polizei suchte Kinderpornos und fand einen Jungen: Im Fall des vermissten Marvin aus Duisburg hat in Bochum der Missbrauchs-Prozess begonnen.
Die Polizei suchte kurz vor Weihnachten 2019 kinderpornografisches Material in einer Wohnung in Recklinghausen und fand: einen lange vermissten Jungen aus Duisburg in einem Schrank. Genau drei Jahre nach Marvins Verschwinden hat am heutigen Freitag in Bochum der Prozess gegen einen 45-Jährigen begonnen. Er soll sein Opfer seit Juni 2017 an die 500 Mal sexuell missbraucht haben. Die Mutter des heute 16-jährigen Nebenklägers will an allen Verhandlungstagen teilnehmen.
Sie haben Marvin gesucht mit diesem Foto: ein mittelblonder Junge im grünen Kapuzenpullover, der die Finger zum Siegeszeichen in die Kamera hält. 13 war er, als er seine Wohngruppe in Oer-Erkenschwick verließ, um sich mit Kumpels zu treffen, sein letztes Lebenszeichen eine Nachricht an seine Erzieher. Nach dem Tod seines Vaters war er ein bisschen auf die schiefe Bahn geraten, aber wo war er jetzt?
Sexuelle Übergriffe schon beim ersten Treffen
Die Staatsanwaltschaft glaubt inzwischen, dass er schon damals in der Wohnung des Angeklagten untertauchte, dass er zweieinhalb Jahre dort lebte. Kurz zuvor hatte Marvin seiner Mutter von „Männerbekanntschaften“ erzählt, sie will ihn vor Pädophilen gewarnt haben – offenbar vergeblich.
Laut Anklage soll es schon bei einem ersten Treffen im Frühsommer 2017 zu sexuellen Handlungen zwischen dem Angeklagten und dem Kind gekommen sein. Dafür soll der Junge bis zu 50 Euro Bargeld oder Zigaretten erhalten haben.
Hundertfacher Missbrauch gegen Kost und Logis
Als die Polizei im Dezember die heruntergekommene Wohnung in Recklinghausen aufsuchte, war sie auf der Suche nach kinderpornografischen Fotos und Videos, die der nun Angeklagte verbreitet haben soll. Marvin war ein Zufalls-Fund, er hatte sich selbst im Schrank versteckt. Warum er mit dem 45-Jährigen und dessen Vater in dem gelben Haus war, blieb zunächst offen. Nach monatelangen Ermittlungen sind sich die Ankläger sicher: Der vorbestrafte Mann hat Marvin 475-mal missbraucht. Als angebliche Gegenleistung für Kost und Logis.
An Flucht dachte der Jugendliche offenbar nicht. Angeblich hatte er Angst, bestraft zu werden, wenn er zu seiner Wohngruppe zurückkehren würde. „Er ist dort nicht festgehalten oder eingesperrt worden“, hieß es zuletzt von Ermittlern. Bei seiner Entdeckung soll er verwahrlost gewesen sein, seine Mutter erzählte entsetzt, sie habe ihren Sohn nicht wiedererkannt. „Was in der Klinik sitzt, erinnert mich nicht an meinen Sohn“, sagte Manuela B. dieser Zeitung. Er habe aber noch dieselben Kleider getragen wie am Tag seines Verschwindens.
Angeklagter ist einschlägig vorbestraft
Noch wenige Monate zuvor, im Juli 2019, war der Vermisstenfall Marvin Thema in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY... ungelöst“ gewesen. Weil dem Tipp einer Zuschauerin, die von Kontakten des Mannes aus Recklinghausen zu einem Kind gehört hatte, nicht nachgegangen wurde, ermittelte zwischenzeitlich die Staatsanwaltschaft gegen die Duisburger Polizei. Zum Zeitpunkt des Anrufs war bereits bekannt, dass der jetzt Angeklagte wegen Besitzes von Kinderpornografie bereits im März 2018 zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt worden war. Zu jener Zeit muss Marvin längst bei ihm gewohnt haben.
Marvins Mutter hofft auf eine hohe Strafe
Der inzwischen 16-Jährige ist vom Landgericht Bochum als Nebenkläger zugelassen worden. Vertreten wird er von seiner Mutter. Manuela B. kündigte gegenüber dieser Zeitung an, an allen Prozesstagen teilnehmen zu wollen. Für die 53-Jährige gehört der Mann, der ihrem Sohn so viel Leid angetan haben soll, für immer hinter Gitter. „Ich hoffe auf eine hohe Strafe!“
Anwältin Marie Lingnau, die Marvin vertritt, sagte vor Prozessbeginn: „Der Junge war in den Fängen eines Mannes, der sehr manipulativ war.“ Seit seiner Befreiung versuche er, in den Alltag zurückzukehren. Das sei jedoch ein sehr schwieriger und langer Weg.
Für den Prozess hat die zuständige 8. Strafkammer vorerst zehn Verhandlungstage bis zum 25. Juni angesetzt. Zusätzlich zu dem hundertfachen „Missbrauch gegen Entgelt oder unter Ausnutzung einer Zwangslage“ sind auch der Besitz und die Verbreitung kinder- und jugendpornografischen Materials angeklagt.
Angeklagter soll auch Nacktbilder von Marvin verbreitet haben
Allein das Verlesen der beiden Anklagen zum Auftakt der Verhandlung hatte fast anderthalb Stunden gedauert. Dort sind alle Fälle aufgeführt, die dem Angeklagten zur Last gelegt werden. Eine grausame Aneinanderreihung von schlimmsten Taten. Unter all den kinderpornographischen Fällen gibt es auch einen ganzen Absatz über Marvin: Der 45 Jährige soll demnach auch Nacktbilder von Marvin gemacht und im Internet verbreitet haben.
Zum Verfahrensauftakt am Freitag hat der Angeklagte erklärt, dass er sich zunächst nicht zu den Vorwürfen äußern werde. Am Nachmittag des ersten Prozesstages sollen die ersten Polizeibeamten aussagen, die den Angeklagten vernommen und Marvin bei dem Einsatz in der Recklinghauser Wohnung im Schrank gefunden haben.