Bochum/Recklinghausen. Missbrauchs-Prozess um Marvin aus Duisburg: Anklägerin und Nebenklage-Anwältin fordern die Sicherungsverwahrung. Verteidiger will „milde Strafe“.
Für Marvin ist eines ganz wichtig: dass der Mann, bei dem er zweieinhalb Jahre wohnte und der ihn missbraucht haben soll an jedem zweiten Tag, „möglichst lange wegkommt“. Nicht nur seine Anwältin fordert deshalb eine lange Freiheitsstrafe für den Angeklagten aus Recklinghausen. Auch die Staatsanwaltschaft will den 46-Jährigen für viele Jahre hinter Gittern sehen – und anschließend in Sicherungsverwahrung. Die Verteidigung bittet um eine milde Strafe.
Mehr als ein Jahr nach Prozessbeginn werden die Plädoyers in diesen Tagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehalten. Niemand soll hören, was das Opfer im Herbst vor dem Bochumer Landgericht erzählt hat; ebenfalls ohne, dass Fremde mithören durften, und aus einem Nebenraum. Eine Gutachterin hatte zuvor erklärt, es könne das Kindeswohl verletzen, wenn Marvin mit dem Angeklagten im selben Saal aussagen müsse. Was er dann sagte, sei ausführlich gewesen, erzählen Prozessbeteiligte, die Anklage habe der Junge bestätigt.
Polizisten entdeckten den Jugendlichen versteckt im Schrank
Danach hat der anfangs 13-Jährige, aus einer Jugendeinrichtung in Oer-Erkenschwick vermisst, fast 1000 Tage bei dem Mann aus Recklinghausen zugebracht, Kost, Logis und manchmal Zigaretten mit sexuellen Handlungen bezahlt. Kurz vor Weihnachten 2019 durchsuchten Polizisten die Wohnung nach kinderpornografischem Material. Sie wurden nicht zum ersten Mal fündig – und entdeckten zufällig den verwahrlosten Jugendlichen in einem Kleiderschrank.
Elf Jahre will die Staatsanwaltschaft den Angeklagten dafür in Haft schicken. Rechtsanwältin Marie Lingnau, die Marvin als Nebenkläger im Prozess vertritt, verlangt sogar 15 Jahre. Die geforderten Gesamt- ergeben sich aus zwei Einzelstrafen: Schon während Marvin noch bei ihm war, war der Mann wegen Besitzes von Kinderpornografie zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Beide Parteien wollen zudem die anschließende Sicherungsverwahrung. Die Voraussetzungen dafür bittet Verteidiger Marcus Kluck zu prüfen, was die Strafkammer natürlich ohnehin muss. Das Plädoyer des zweiten Verteidigers ist für Ende Juli geplant.
Strafmindernde Umstände will Nebenklage-Vertreterin Lingnau nicht gelten lassen: Unter anderem sei die Einlassung, die der 46-Jährige erst vor wenigen Tagen verlesen ließ, zu spät gekommen und noch dazu „grotesk“ gewesen, wie selbst Staatsanwältin Nicole Abts sagt. In der Erklärung, die sie dennoch als „Teilgeständnis“ wertet, hatte der Angeklagte die Vorwürfe zwar eingeräumt, aber betont, es sei alles „Marvins Idee“ gewesen, er habe er sich nur widerwillig gefügt.
Anwältin: „Ein Erwachsener hat ein Kind nicht anzufassen“
„Mit 13“, empört sich Anwältin Lingnau gegenüber dieser Zeitung, „weiß man noch gar nicht, was da passiert.“ Für die Nebenkläger-Vertreterin ist klar: „Ein Erwachsener hat ein Kind nicht anzufassen. Kein Kind der Welt ist da in die Verantwortung zu nehmen.“ Kurz vor den Schlussvorträgen hatte sie deshalb parallel zum Strafprozess auch eine Zivilklage angestrengt: 50.000 Euro Schmerzensgeld solle der 46-Jährige an ihren Mandanten zahlen. 35.000 sagte der in einem Vergleich zu, zahlbar ab August. 20 Euro soll Marvin dann monatlich vom Taschengeld des Häftlings bekommen, dessen finanzielle Mittel, so sein Verteidiger, „bescheiden“ seien. Bliebe es dabei, wäre das Schmerzensgeld ein eher symbolisches: Bis es abbezahlt ist, würde es fast 146 Jahre dauern.
Es wiege besonders schwer, erklärte Anwältin Lingnau ihre Klage, „dass der Angeklagte Marvin als denjenigen darstellt, der für den Missbrauch die Verantwortung trägt“. Diese Darstellung, sagt sie gegenüber dieser Zeitung, habe den 16-Jährigen „schwer getroffen“ und ihn nachhaltig beschäftigt. Der Junge kehre gerade „kleinschrittig ins Leben zurück“, leide an einer Posttraumatischen Belastungsstörung und einer gewissen Angst vor Menschen. Gutachter hatten das bestätigt.
„Er hat gelernt, dass das Erwachsenen-System ihm nicht hilft.“ Zuhause bei seiner Mutter in Duisburg fühle er sich nun aber wohl. Marvin arbeite an sich, wolle aber auch, dass der Angeklagte das tun müsse: „Er soll möglichst viele Tage darüber nachdenken.“
>> INFO: DAS URTEIL
Das Urteil im nun schon seit Juni 2020 andauernden Missbrauchs-Prozess lässt weiter auf sich warten. Die 8. Strafkammer des Bochumer Landgerichts als Jugendkammer bewegt sich auf den 50. Verhandlungstag zu, immer wieder hatte es wegen weiterer Anträge, aber auch wegen Krankheiten und der Schwangerschaft einer Richterin Verzögerungen gegeben.
Ende Juli soll nun der zweite Verteidiger plädieren, Ende August der Angeklagte das letzte Wort haben. Auch diese Verhandlungstage laufen nicht-öffentlich. Das Urteil ist derzeit für den 2. September vorgesehen.