Essen. In Essen steht ein 15-Jähriger vor Gericht. Er soll seinen älteren Bruder ermordet haben. Das Motiv ist unbekannt.
15 Jahre alt ist er. Am Dienstag sitzt der Hauptschüler aus Essen zum ersten Mal in seinem Leben vor Gericht. Mord wirft die Staatsanwaltschaft ihm vor. Er soll seinen vier Jahre älteren Bruder umgebracht haben.
Die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen, als Staatsanwältin Elisa Haering vor der XXV. Jugendstrafkammer die Anklage vorliest. Lediglich die Eltern des Angeklagten dürfen als seine gesetzlichen Vertreter zuhören. Weil sie schlecht Deutsch sprechen, übersetzt einer ihrer Söhne. 2016 ist die achtköpfige Familie aus dem Irak nach Deutschland eingewandert.
Anklage spricht von Heimtücke
Heimtücke wirft die Anklage dem jüngsten Sohn der Familie vor. Er hatte mit seinem 19 Jahre alten Bruder in einem Zimmer der elterlichen Wohnung im Ortsteil Steele gelebt. Zwei Etagenbetten standen in dem Raum. Der ältere Bruder soll in einem Bett oben geschlafen haben, der Angeklagte im anderen unten.
Gegen 2.40 Uhr soll der Angeklagte am 9. August 2022 auf einen Stuhl vor dem Bett seines Bruders geklettert sein. In der Hand ein Messer mit einer 20 Zentimeter langen Klinge.
Vier Stiche im Rücken
17 Mal soll er auf seinen zunächst schlafenden Bruder eingestochen haben. Von Heimtücke spricht die Anklage, weil das Opfer im Schlaf natürlich arg- und wehrlos gewesen sei. Sieben Verletzungen stellten die Rechtsmediziner am Kopf fest, sechs an Schulter und Hals sowie vier im Rücken.
Das Opfer schaffte es noch, aus dem Bett nach unten zu klettern. Im Flur vor dem Zimmer brach der 19-Jährige aber zusammen. Schnell eilten die durch Lärm aufmerksam gewordenen Familienmitglieder herbei. Doch der durch sie alarmierte Notarzt kam zu spät, um den jungen Mann zu retten. Er war bereits tot.
Tatmotiv bleibt unklar
Was genau in der Tatnacht geschah, ist auch Polizei und Staatsanwaltschaft völlig unklar. Vor allem ein mögliches Tatmotiv ist nicht bekannt. Die Schuld des Angeklagten leiten sie daraus ab, dass seine DNA-Spuren am Messer gefunden wurden.
An Blutspuren ließe sich seine Täterschaft nicht belegen. Denn viele der in das Zimmer gestürmten Familienmitglieder hatten blutverschmierte Kleidung. Sie berichteten, dass sie beide Brüder im Zimmer beziehungsweise Flur angetroffen hätten. Das eigentliche Tatgeschehen sei da schon beendet gewesen, dazu könnten sie nichts sagen. Spekulationen der Familie, der 19-Jährige habe Selbstmord begangen, scheidet aus Sicht der Ermittler wegen der Messerstiche im Rücken aus.
"Mein Bruder lag neben mir"
Der 15-Jährige hatte in der Tatnacht gegenüber der Polizei gesagt, er sei aufgewacht, sein Bruder habe neben ihm gelegen, voller Blut. Was passiert sei, wisse er nicht.
Gegenüber dem psychiatrischen Gutachter Pedro Faustmann gab er an, er sei wach geworden, weil sein Bruder laut geschrien habe. Der habe ein Messer in der Hand gehabt. Da sei er hoch zu ihm und sei von diesem angegriffen worden. Da habe er das Messer in die Hand bekommen und zugestochen. Es klingt wie Notwehr - als ob er seinen Bruder beim Suizid unterbrochen haben will.
Kein Hinweis auf Streitigkeiten
Auffälligkeiten im Leben der beiden gibt es wohl nicht. Streit soll es nicht gegeben haben. Die Kinder der aus dem jesidischen Kulturkreis stammenden Familie gelten als gut integriert.
Auch der von der Staatsanwaltschaft beauftragte psychiatrische Sachverständige Faustmann, der den 15-Jährigen bisher als voll schuldfähig einstuft, liefert in seinem vorläufigen Gutachten keine Erklärung für eine mögliche Tat. Zum Prozessauftakt haben die Bemühungen der Verteidiger Heiner Lindemann und Andreas Wieser Erfolg. Sie hatten bemängelt, dass er kein Kinder- und Jugendpsychiater sei. Jetzt holt die Kammer eine Gutachterin aus dieser Disziplin zusätzlich in die Verhandlung.
Vier weitere Sitzungstage hat das Gericht angesetzt. Verteidiger Wieser sieht noch viele Fragen: "Es muss aufgeklärt werden, ob die Beweise für die Täterschaft unseres Mandanten ausreichen. Außerdem sind familiäre und kulturelle Hintergründe zu erhellen."